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Wanderhirten auf sechs Beinen

Kaum eine andere Tierfamilie hat eine solche Fülle unterschiedlicher Verhaltensweisen entwickelt, wie die Ameisen. Bezeichnungen wie Pilzzüchter, Gärtner, Weber und Wanderjäger klingen mehr nach Mensch, als nach Insekt. Doch das Verhalten der asiatischen Drüsenameise Dolichoderus cuspidatus überraschte selbst Kenner: Diese Ameisen ziehen mit Herden von Schmierläusen der Gattung Malaicoccus durch den Regenwald, um ihren "Haustieren" stets das beste Futter bieten zu können.
Verbreitung der Wanderhirtenameisen
Seit knapp zwanzig Jahren erforscht ein Team um Ulrich Maschwitz von der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt die ungewöhnlichen Partnerschaften. In der Juni-Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft berichtet er mit Martin Dill und Volker Witte über die Entdeckungen. Den Forschern erschloss sich auf ihren Expeditionen eine ganze, bis dato verborgene Welt von Wanderhirten-Symbiosen. Sie identifizierten mittlerweile 15 verschiedene Drüsenameisenarten, die mit insgesamt 36 Lausarten zusammenleben, wobei sich jede Ameisenart auf bestimmte "Nutztiere" spezialisiert hat. Die Läuse profitieren vom Schutz durch die deutlich größeren Ameisen, während diese den zuckerhaltigen Honigtau fressen, den ihre Herde ausscheidet.

Ameisen, die Läuse "melken", sind auch hierzulande verbreitet. Die asiatischen Wanderhirten ernähren sich jedoch ausschließlich vom zuckerhaltigen Sekret ihrer "Haustiere". Diese Abhängigkeit bedingt wohl auch die ungewöhnliche Fürsorge gegenüber ihren Schützlingen. Sobald Gefahr droht, packen die Ameisen so viele Läuse wie möglich und tragen sie fort. Umgekehrt beteiligen sich die Läuse aktiv am Transport: Bei einer Störung verlassen sie selbstständig ihren Saugplatz, um Kontakt zu ihren Ameisen zu suchen und dann eventuell sogar an ihnen emporzuklettern – manche Lausarten reiten gar auf dem Rücken ihrer Beschützer.

Die Ameisen transportieren ihre Herde nicht nur bei Gefahr. Um die Honigtauproduktion zu maximieren, achten sie darauf, die Läuse regelmäßig zu neuen Weidegründen zu tragen. Die Schmierläuse sind zwar bei der Auswahl ihrer Wirtspflanzen flexibel, sie bevorzugen jedoch besonders junge Pflanzenteile. Deshalb veranlassen die Wanderhirtenameisen regelmäßige Umzüge, bei denen die komplette Lausherde innerhalb weniger Stunden auf neue Wirtspflanzen verteilt wird.

Ähnlich wie menschliche Nomaden verzichten auch die Wanderhirtenameisen auf eine feste Wohnstätte. Stattdessen bilden aneinander geklammerte Arbeiterinnen ein nestartiges Gebilde, das der Königin als Haus und den Partnerläusen als Kreißsaal dient. Im Gegensatz zu anderen Ameisenarten gründen die jungen Königinnen der Wanderhirten nicht allein auf sich gestellt ein neues Volk. Stattdessen teilt sich das Volk in zwei Gruppen auf, die jeweils ihres Weges gehen. Auch die Läuse werden gleichmäßig verteilt.

Die Wanderhirtenameisen und ihre Herden haben im Laufe der Evolution eine sehr erfolgreiche Kooperation entwickelt – dennoch sind sie akut gefährdet. Zwar kommen die Tiere in einem riesigen Gebiet Ostasiens vor, doch sind sie auf den artenreichen Regenwald angewiesen, um zu überleben. Mit der zunehmenden Abholzung verlieren sie ihre ökologische Nische. In modernen Plantagen sucht man die hochinteressanten Tiere vergebens.

Abdruck honorarfrei bei Quellenangabe: Spektrum der Wissenschaft, Juni 2010
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