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Der Mathematische Monatskalender: Fançois Viète (1540–1603)

Eigentlich diente François Viète den französischen Königen Henri III. und IV. an höchster Stelle als Berater. Heute kennen wir ihn vor allem als den, der das Buchstabenrechnen in die Mathematik einführte.
François Viète

Dass François Viète, Sohn eines wohlhabenden Rechtsanwalts in Fontenay-le-Comte (Poitou, heute Vendée), einer der bedeutendsten Mathematiker des 16. Jahrhunderts werden würde, konnte man bei seiner Geburt nicht ahnen. Seine ersten Lebensjahre verlaufen standesgemäß: Er besucht die lokale Klosterschule der Franziskaner, studiert die Rechte an der Universität von Poitiers, legt dort im Alter von 20 Jahren das Examen ab und nimmt erfolgreich eine Tätigkeit als Anwalt auf – mit dem klaren Ziel vor Augen, nach einigen Jahren der Berufserfahrung eine Universitätslaufbahn einzuschlagen.

1564 bietet ihm jedoch die einflussreiche Familie von Jean de Parthenay, dem militärischen Führer der Hugenotten, eine Stelle als Sekretär an. Hier ist er nicht nur für Rechtsfragen zuständig, sondern auch für die Erziehung und die Bildung der 11-jährigen Tochter Catherine. Für sie verfasst er eigene Texte zu naturwissenschaftlichen und mathematischen Themen, insbesondere zur Astronomie, Trigonometrie und Geographie, die teilweise noch heute erhalten sind. Dabei verwendet er bereits Dezimalzahlen – 20 Jahre vor Stevins De Thiende.

Als Jean de Parthenay stirbt, begleitet Viète Witwe und Tochter nach La Rochelle, wo er die Spitzen der hugenottischen Aristokratie kennenlernt, darunter auch Henri de Navarre, den späteren König Henri IV. Von 1570 an wohnt er wieder in Fontenay-le-Comte; außerdem schreibt er sich in Paris als Anwalt ein. Im August 1572 weilt er aus Anlass der Hochzeit von Henri de Navarre mit Margarete de Valois, Tochter der Königin Katharina von Medici, in Paris. Diese Hochzeit soll die jahrzehntelangen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen dem katholischen und protestantischen Lager beenden, aber in der Nacht vom 23. auf den 24. August kommt es zu einem Massaker: Der Führer der Hugenotten sowie zahlreiche seiner Anhänger werden umgebracht (Bartholomäus-Nacht).

Während der nächsten acht Jahre arbeitet Viète fern von Paris als Anwalt in Rennes, der Hauptstadt der Bretagne, und wird Mitglied des regionalen Gerichtshofs. In dieser Zeit vermittelt er auch die Heirat seiner ehemaligen Schülerin Catherine mit dem protestantischen Herzog René de Rohan, der aus einem der einflussreichsten Adelsgeschlechter der Bretagne stammt. Auf dessen Empfehlung hin betraut König Henri III. Viète mit dem wichtigen Amt eines Maître des requêtes, der über eingehende Gesuche für den obersten Gerichtshof in Paris zu entscheiden hat. Viète ist weiter auch als Anwalt tätig; als er für René de Rohans Schwester einen Prozess gegen den (katholischen) Herzog von Nemours gewinnt, ist die Geduld der katholischen Heiligen Liga vorüber: Sie üben Druck auf den König aus, bis dieser François Viète wegen angeblicher Bevorzugung der Protestanten aus dem Amt entlässt.

Und so zieht sich Viète 1585 für vier Jahre zunächst nach Fontenay, dann nach Beauvoir-sur-Mer zurück, um sich ganz der Mathematik zu widmen ...

Henri III., der um ein friedliches Zusammenleben von Protestanten und Katholiken bemüht ist, gerät immer mehr unter den Druck der Heiligen Liga. Als der kinderlose Herrscher versucht, den Hugenotten Henri de Navarre zu seinem Nachfolger zu küren, verschärfen sich die politischen Zustände dramatisch. Die Heilige Liga verbündet sich mit Philipp II. von Spanien, der Truppen ins Land schickt und nach der Ermordung von Henri III. sogar den französischen Thron für seine Tochter Isabella beansprucht. Ein verschlüsseltes Schreiben Philipps an seine Verbündeten, das die genauen militärischen Pläne der spanischen Truppen enthält, wird abgefangen und von François Viète, der dem neuen König Henri IV. zur Seite steht, dekodiert. Als Philipp II. dies erfährt, beschuldigt er den französischen König der schwarzen Magie, denn ihm ist von seinen Beratern versichert worden, dass die Verschlüsselung, bei der über 500 Zeichen verwendet werden, nicht gebrochen werden kann. Eine Beschwerde beim Papst wird von diesem zurückgewiesen; schließlich sind auch die Mathematiker im Vatikan schon seit einiger Zeit in der Lage, die nur mit mono-alphabetischer Substitution verschlüsselte Korrespondenz des spanischen Königs mitzulesen.

Erst als Henri IV. zum katholischen Glauben konvertiert (Paris ist eine Messe wert), kann er seinen Herrschaftsanspruch in Frankreich endgültig durchsetzen und auch für einige Jahre Frieden im Land herstellen (Edikt von Nantes). François Viète dient dem neuen König als persönlicher Berater noch bis zum Jahr 1602. Dann zieht er sich erschöpft auf seine Güter zurück; ein Jahr später stirbt er in Paris.

François Viète hat sich nie als Mathematiker bezeichnet (ego qui me Mathematicum non profiteor ...). Seit seiner Tätigkeit als Lehrer von Catherine de Parthenay ist er jedoch von mathematischen Fragestellungen fasziniert. Bereits während seiner Tätigkeit als Anwalt in Paris beschäftigt er sich in jeder freien Minute mit Mathematik.

1571 veröffentlicht er sein erstes Buch: canon mathematicus - eine Zusammenstellung aller trigonometrischen Grundaufgaben für ebene und sphärische Dreiecke, einschließlich eines Tafelwerks der sechs trigonometrischen Funktionen. 1591 dann erscheint unter dem latinisierten Namen Franciscus Vieta sein Hauptwerk: In artem analyticem isagoge – es ist eine Einführung in die Algebra. Das Buch widmet er seiner Schülerin Catherine, der er – wie er betont – seine Liebe zur Mathematik verdankt.

Zwar gab es in den vorangegangenen Jahrzehnten viele Ansätze für algebraische Schreibweisen, aber keiner seiner Vorgänger geht so konsequent damit um wie er. Vieta benutzt Konsonanten als Platzhalter für konstante Größen und Vokale für unbekannte Größen (die heute üblichen Kleinbuchstaben \(x, y, z\) werden 1637 von Descartes eingeführt). Für Addition und Subtraktion werden Plus- und Minuszeichen verwendet, für die Division ein Bruchstrich; allerdings schreibt er noch das Wort in für die Multiplikation und aequale anstelle des Gleichheitszeichens. Potenzen von Variablen werden durch Zusätze wie quad. (quadratus), cubus und so weiter gekennzeichnet.

Im ersten Kapitel des Buches verdeutlicht er, dass es notwendig ist, einer gesuchten Größe einen Namen zu geben und dafür ein Symbol einzuführen. Im zweiten Kapitel erläutert er die Grundgesetze des Rechnens (zum Beispiel Assoziativ- und Distributivgesetze) sowie zulässige Umformungsschritte für Gleichungen, durch die – wie er festhält – die Gleichheit nicht verändert wird (was man heute als Äquivalenzumformung bezeichnet). Eine besondere Rolle spielen dabei auch die Proportionen (Verhältnisgleichungen); denn Gleichungen, die sich in Form einer Proportion darstellen lassen, führen unmittelbar auf geometrische Lösungen (zu drei gegebenen Gliedern einer Proportion kann das vierte durch Konstruktion ermittelt werden).

Im dritten Kapitel stellt er einschränkend fest, dass nur Größen gleicher Dimension miteinander verglichen werden können, also Längen, Flächen, Volumina, aber auch Größen höherer Dimension. Dies kommt in den von ihm behandelten Gleichungen dadurch zum Ausdruck, dass er die Koeffizienten mit entsprechenden Exponenten versieht, zum Beispiel bei einer Gleichung 3. Grades in Normalform so: \(A^3 + BA^2 + D^2A = G^3\).

In den weiteren Kapiteln demonstriert Vieta, wie man Gleichungen auflöst.

In der Aufgabensammlung Zeteticorum libri quinque, die nur zwei Jahre später erscheint, gelingt es ihm in eindrucksvoller Weise, die Vorteile seiner algebraischen Methode zu verdeutlichen. Das folgende Beispiel stammt – wie die meisten der von ihm behandelten Aufgaben – aus der Arithmetica des Diophant.

Dieser hatte unter anderem die Aufgabe gestellt: Eine gegebene Zahl ist in zwei Teile zu teilen, deren Differenz gegeben ist.

Bezeichnet man die gegebene Zahl mit \(D\) und die Differenz der beiden gesuchten Zahlen mit \(B\), die kleinere der gesuchten Zahlen mit \(A\), dann ist die größere gleich \(E = A + B\).

Die Gleichung \(A+(A+B)=D\) wird umgeformt zu \(2A + B = D\) und \(2A = D – B\) und weiter \(A=\frac{1}{2} D – \frac{1}{2} B\). Für die größere Zahl \(E\) folgt daher:

\( E = A + B = \frac{1}{2} D – \frac{1}{2} B + B = \frac{1}{2} D + \frac{1}{2} B.\) Man findet die beiden gesuchten Zahlen \(A\) und \(E\) also, indem man die halbe Summe beziehungsweise Differenz der Größen \(D\) und \(B\) bildet.

Im zweiten Kapitel des Buches behandelt er quadratische Gleichungen; unter anderem löst Vieta das folgende Problem des Diophant: Zwei Seiten sind zu finden, wenn das Rechteck aus den Seiten (das heißt das Produkt) und die Summe der Seiten gegeben ist, indem er es auf die oben gelöste Aufgabe zurückführt. Zunächst zeigt er allgemein, dass gilt: \((X + Y)^2 – 4XY = (X – Y)^2\), und schließt dann, dass man nur die Summe \(X + Y\) der Seiten quadrieren und davon das vierfache Produkt \(4XY\) subtrahieren muss, um das Quadrat der Differenz \(X – Y\) der beiden Seiten zu erhalten.

Wenn man die Summe und die Differenz zweier Zahlen kennt, kann man die beiden gesuchten Zahlen bestimmen (siehe oben).

In den nach seinem Tod herausgegebenen Schriften De recognitione aequationum (Untersuchung von Gleichungen) und De emendatione aequationum (Verbesserung von Gleichungen) zeigt Vieta, wie man durch Umformung gewisser Gleichungen zu anderen Gleichungstypen gelangt und wie man umgekehrt diese Umformungen zur Lösung von Problemen nutzen kann. So zeigt er den (später nach ihm benannten) Wurzelsatz:

  • Wenn eine quadratische Gleichung in \(A\) die Form \( (B + D)\cdot A – A^2 = BD \) hat, dann sind \(B\) und \(D\) die beiden Lösungen.
  • Wenn eine kubische Gleichung in \(A\) dargestellt werden kann als \(A^3 – (B + D + G)\cdot A^2 + (BD + BG + DG)\cdot A = BDG\), dann sind \(B, D, G\) die Lösungen.

Auch führt er vor, wie man Gleichungen durch Substitution vereinfachen kann; zum Beispiel kann die kubische Gleichung \(A^3 + 3BA^2 = D^3\) durch das Einsetzen von \(E – B\) für \(A\) umgeformt werden zu \(E^3 – 3B^2E = D^3 – 2B^3\). Er merkt an, dass man grundsätzlich in einer Gleichung \(n\)-ten Grades das Glied (\(n-1\))-ten Grades eliminieren kann.

Offensichtlich versteht es Vieta, mit binomischen Formeln umzugehen, auch wenn er sie (mit unserer Schreibweise heute verglichen) umständlich notiert:

\((A + B)^5\) ist \(A\) quadrato-cubus, + \(A\) quadrato-quadrato in \(B\) 5, + \(A\) cubo in \(B\) quadratum 10, + \(A\) quadrato in \(B\) cubum 10, + \(A\) in \(B\) quadrato-quadratum 5, + \(B\) quadrato-cubo.

Weiter fällt ihm eine ähnliche Regelmäßigkeit der Termbildung bei den Additionstheoremen für Sinus und Kosinus auf, zum Beispiel erkennt er – 130 Jahre vor de Moivre:

\( \cos(5\alpha) = \cos^5(\alpha)- 10 \cos^3(\alpha) \sin^2(\alpha)+ 5 \cos(\alpha) \sin^4(\alpha)\) sowie \(\sin(5\alpha)=5 \cos^4(\alpha) \sin(\alpha) – 10 \cos^2(\alpha) \sin^3(\alpha) + sin^5(\alpha)\)

Diese Erkenntnisse über Winkelfunktionen helfen Vieta, ein Problem zu lösen, das der Niederländer Adriaan van Roomen den Mathematikern Europas gestellt hat. Vieta erkennt, dass dazu eine Gleichung 45. Grades gelöst werden muss, was ihm mithilfe eines trigonometrischen Ansatzes in kürzester Zeit gelingt. "Ut legi, ut solvi" (wie gelesen, so gelöst) kommentiert er seinen Erfolg.

In kurzem Abstand folgen weitere Schriften, die teilweise erst posthum veröffentlicht werden. Besonders eindrucksvoll erscheint sein Verfahren zur Bestimmung der Zahl \(\pi\). Er vergleicht fortlaufend die Flächenverhältnisse des (einem Kreis einbeschriebenen) regelmäßigen \(2^n\)-Ecks zum \(2^{n +1}\)-Eck und gelangt so zu einem unendlichen Produkt – der ersten Produktdarstellung der Kreiszahl \(\pi\) in der Mathematikgeschichte:

\( \frac{2}{\pi} = \frac{A_4}{A_8} \cdot \frac{A_8}{A_{16}} \cdot \frac{A_{16}}{A_{32}} \cdot \dots = \frac{\sqrt{2}}{2} \cdot \frac{\sqrt{2+\sqrt{2}}}{2} \cdot \frac{\sqrt{2+\sqrt{2+\sqrt{2}}}}{2} \cdot \dots\)

Die Belastung als persönlicher Berater des König und die immer intensiver werdende Beschäftigung mit mathematischen Problemen tragen zu Vietas Erschöpfung bei. In seinen letzten Lebensjahren vergeudet er zusätzliche Energie, als er sich in polemischer Weise mit Christopher Clavius anlegt, dem Berater des Papstes Gregor XIII., indem er diesem – fälschlicherweise – vorwirft, die Kalenderreform aufgrund fehlerhafter Berechnungen und willkürlicher Setzungen durchgeführt zu haben.

Fançois Viète (1540-1603)

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