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Der Mathematische Monatskalender: Hermann Minkowski (1864–1909)

Minkowski schuf das geometrische Modell einer nichteuklidischen vierdimensionalen Raumzeit, mit dem die spezielle Relativitätstheorie Albert Einsteins mathematisch greifbar wurde.
Hermann Minkowski (1864 – 1909)

"Ach, der Einstein? Der schwänzte doch immer meine Vorlesungen – dem hätte ich das gar nicht zugetraut." soll sein ehemaliger Mathematik-Professor gesagt haben, als er von der Veröffentlichung Zur Elektrodynamik bewegter Körper hörte, die heute als Spezielle Relativitätstheorie bezeichnet wird. Tatsächlich interessierte sich der Student Albert Einstein nur wenig für die abstrakte Mathematik, wie sie am Polytechnikum in Zürich (heute ETH) gelehrt wurde, was er später allerdings bedauerte. Bei dem zitierten Mathematik-Professor handelte es sich um Hermann Minkowski, der den Lehrstuhl von 1896 bis 1902 innehatte.

Hermann Minkowski stammt aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die 1872 von Kaunas (heute Litauen) nach Königsberg umzieht. Dort besucht der Junge das Altstädtische Gymnasium, kann mehrfach eine Klasse überspringen und erhält im März 1880 – er ist noch nicht 16 Jahre alt – das Reifezeugnis. Während seiner Studienzeit lernt er David Hilbert kennen.

Zwischen den beiden Studenten und dem 1884 nach Königsberg gewechselten 25-jährigen Mathematikprofessor Adolf Hurwitz entwickelt sich eine lebenslange Freundschaft. Als 1881 die Pariser Académie des Sciences das Problem der Darstellbarkeit von natürlichen Zahlen als Summe von fünf Quadratzahlen stellt, vertieft sich der 17-jährige Student Hermann Minkowski so sehr in den Beweis einer Vermutung von Ferdinand Gotthold Max Eisenstein (1823 – 1852), dass er hieraus eine allgemeine Theorie entwickelt, die weit über das gestellte Thema hinausgeht. Obwohl der Beitrag formal nicht den Wettbewerbsbedingungen entspricht (er ist in deutscher Sprache verfasst), wird Minkowski der Preis der Académie zugesprochen.

Carl Friedrich Gauß hatte in seinen Disquisitiones Arithmeticae eine umfassende Theorie binärer quadratischer Formen \(f(x,y)\) mit \(f(x,y) = ax^2 + bxy + cy^2\) mit \(a, b, c \in \mathbb{Z}\) entwickelt.

Minkowski verallgemeinert diese Untersuchungen für quadratische Formen mit mehr als zwei Variablen. Im Jahr 1885 wird er mit einer Arbeit zu dem Thema promoviert. 1887 erhält er eine Dozentenstelle an der Universität Bonn mit der Habilitationsschrift Räumliche Anschauung und Minima positiv definiter quadratischer Formen. 1892 wird er zum außerordentlichen Professor ernannt. Dann folgen zwei Jahre der Lehrtätigkeit in Königsberg (in der Nachfolge von Hilbert), bevor er 1896 einen Ruf an das Eidgenössische Polytechnikum in Zürich erhält, wo sein Freund Hurwitz seit 1892 lehrt.

In seine Züricher Zeit fällt die Veröffentlichung der Abhandlung Geometrie der Zahlen – der Beitrag Minkowskis zu einem Bericht über die neueren Entwicklungen der Zahlentheorie, den er und Hilbert im Auftrag der Deutschen Mathematiker-Vereinigung verfassen. Minkowski entwickelt hierin die Idee n-dimensionaler Gitter. Diese Gitter im \(\mathbb{R}^n\) werden durch Basisvektoren erzeugt (beispielsweise durch die Einheitsvektoren); die ganzzahligen Linearkombinationen dieser Vektoren bestimmen die Punkte eines Gitters, die \(n\)-dimensionalen Parallelotope aus benachbarten Punkten eine Gittermasche M.

MINKOWSKI'scher Gitterpunktsatz: Gegeben ist eine beschränkte, konvexe*) und zum Ursprung symmetrische Teilmenge \(T\) des \(\mathbb{R}^n\). Wenn \(\text{Volumen}(T) > 2^n \cdot \text{Volumen}(M)\), dann enthält \(T\) außer dem Ursprung mindestens einen weiteren Gitterpunkt.

*) mit zwei Punkten \(P, Q \in T\) liegt auch jeder Punkt der Strecke \(PQ\) in der Menge \(T\)

Betrachtet man beispielsweise im \(\mathbb{R}^2\) das regelmäßige Gitter eines rechtwinkligen kartesischen Koordinatensystems, dann bilden Quadrate mit der Seitenlänge 1 die Gittermaschen mit dem "Volumen" 1. Für jede Teilmenge \(T\) mit den oben angegebenen Eigenschaften gilt dann: Wenn der Flächeninhalt von \(T\) größer ist als \(2^2 \cdot 1 = 4\), dann muss mindestens ein weiterer Gitterpunkt zu \(T\) gehören. Im Umkehrschluss ergibt sich für jede zum Ursprung symmetrische Ellipse (Ellipsengleichung: \(ax^2 + bxy + cy^2 = d\) ), die keinen weiteren Gitterpunkt enthält (wie im unteren Beispiel), dass der Flächeninhalt höchstens \(4\) betragen kann.

Dieser Satz von scheinbar nur geometrischer Bedeutung hat erstaunliche Anwendungsmöglichkeiten in der Zahlentheorie. Aus einer Bedingung für die Koeffizienten eines quadratischen Terms folgt die Existenz von Gitterpunkten (deren Koordinaten sind die ganzzahligen Lösungen), zum Beispiel bei folgenden von Euler gefundenen Sätzen: Jede Primzahl der Form \(6k+1 \quad (8k+1)\) ist Summe aus einer Quadratzahl und dem Dreifachen (Zweifachen) einer anderen Quadratzahl.

Das Werk Geometrie der Zahlen enthält eine Fülle weiterer Aspekte, die Konsequenzen haben zum Beispiel in der Theorie der Zahlkörper, bei der Approximation von algebraischen Zahlen durch Kettenbrüche oder hinsichtlich des Problems der dichtesten Kugelpackung. Charles Hermite ist von den Ideen des Buchs so begeistert, dass er ausgerufen haben soll: Ich glaube, das gelobte Land zu sehen, und er lässt für sich eine Übersetzung anfertigen, um alle Einzelheiten des Werks zu verstehen.

1902 wechselt Minkowski an einen eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl nach Göttingen, wo er seine fruchtbare Zusammenarbeit mit Hilbert fortsetzt. In der Zwischenzeit hat er ein besonderes Interesse an Problemen der theoretischen Physik gefunden und unter anderem einen Enzyklopädie-Beitrag zur mathematischen Modellierung der Kapillarität verfasst. Im Jahr 1905 veranstaltet Hilbert ein Seminar, das sich mit dem 1897 von Josef J. Thomson entdeckten Elektron und den hierzu von Hendrik Antoon Lorentz und Henri Poincaré entwickelten Theorien beschäftigt. Mithilfe von Lorentz-Transformationen lassen sich Orte und Zeitpunkte verschiedener Beobachter in Einklang bringen; jedoch setzt die Lorentz'sche Theorie die Existenz eines Äthers voraus. In seiner Relativitätstheorie geht Einstein von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aus und kann hiermit alle Phänomene erklären.

Aber erst Minkowski gelingt es, die Ideen der Einstein'schen Theorie zu veranschaulichen. Seinen berühmten Vortrag auf der 80. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln im Jahr 1908 beginnt er mit den Worten: Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund' an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren. Dann erläutert er sein geometrisches Modell einer nichteuklidischen 4-dimensionalen Raumzeit, Punkte mit den Koordinaten \((t; x; y; z)\) sind Ereignisse (Zeitpunkt \(t\) und Ortskoordinaten \(x, y, z\)), Folgen von Punkten Weltlinien.

Die Metrik in diesem Vektorraum wird bestimmt durch das folgende Skalarprodukt zweier Ereignisvektoren:

\( – (c \cdot t_1) \cdot (c\cdot t_2) + x_1 \cdot x_2 + y_1 \cdot y_2 + z_1 \cdot z_2\). Wobei \(c\) die Lichtgeschwindigkeit ist.

Zur Veranschaulichung entwickelt er ein Diagramm, in dem die Raum-Koordinaten durch nur eine Achse repräsentiert sind. Mithilfe dieser Vereinfachung lassen sich paradox erscheinende Phänomene wie Zeitdilatation oder Längenkontraktion nachvollziehen. Mithilfe einer 3-dimensionalen Darstellungsform des Licht-Doppelkegels verdeutlicht er, was aus der Sicht eines Beobachters Vergangenheit beziehungsweise Zukunft bedeutet.

Einstein ist zunächst nicht besonders begeistert vom mathematischen Modell Minkowskis (Seit sich die Mathematiker der Relativitätstheorie bemächtigt haben, verstehe ich sie selbst nicht mehr), räumt aber später ein, dass ohne diesen Ansatz ... die allgemeine Relativitätstheorie vielleicht in den Windeln stecken geblieben wäre.

Als Minkowski im Alter von erst 44 Jahren nach einem Blinddarm-Durchbruch stirbt, hält Hilbert die Gedächtnisrede, voller Dankbarkeit an den Freund, der ihm im Jahr 1900 den Vorschlag gemacht hatte, in seinem Vortrag in Paris auf dem Internationalen Mathematikerkongress einen Blick in die Zukunft zu werfen: Mit welchen Problemen werden sich die Mathematiker in den kommenden Jahrzehnten beschäftigen? – ein Vortrag, der in der mathematischen Forschung bis heute eine Rolle spielt.

Hermann Minkowski (1864 – 1909)

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