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Der Mathematische Monatskalender: James Joseph Sylvester (1814–1897)

James Joseph Sylvester lehrte und forschte an vielen Hochschulen in Irland, England und den USA; er arbeitete als Anwalt, übersetzte Gedichte und studierte die Gesetzmäßigkeiten der Verslehre.
James Joseph Sylvester

Eigentlich war sein Name James Joseph, Sohn des jüdischen Kaufmanns Abraham Joseph aus London. Aber als sein ältester Bruder in die USA auswandert, insistiert die Einwanderungsbehörde auf die Einhaltung der Vorschrift, dass Personennamen aus drei Namen bestehen. Und weil ihm die Auswahl seines Bruders gefällt, übernimmt auch James Joseph den Familiennamen Sylvester.

James besucht zunächst zwei Schulen in London, bevor ihn der Vater an dem neu gegründeten University College anmeldet, der ersten nicht-konfessionellen Schule Englands. Sein Mathematiklehrer ist Augustus de Morgan, der die mathematische Begabung des Jungen schnell erkennt.

Doch James kann nicht lange auf dem College bleiben: Als er bei einem Streit einen Mitschüler mit einem Messer bedroht, meldet ihn der Vater vorsorglich von der Schule ab. Nach erfolgreichem Besuch eines Colleges in Liverpool immatrikuliert sich Sylvester als Student am St. John’s College in Cambridge. Das Studium der Mathematik schließt er – trotz krankheitsbedingter Unterbrechungen – mit dem zweitbesten Examen des Jahrgangs ab. Allerdings wird ihm dieser Abschluss nicht durch eine graduation-Urkunde bestätigt, da er als gläubiger Jude sich weigert, einen Eid auf die 39 Glaubensgrundsätze der Anglikanischen Kirche abzulegen.

In den Jahren 1838 bis 1841 kann Sylvester als Physiklehrer am University College arbeiten; in dieser Zeit veröffentlicht er 15 Beiträge, zur Strömungslehre und zur Lösung algebraischer Gleichungen.

Die Beschäftigung mit physikalischen Problemen befriedigt ihn jedoch nicht besonders. Daher ist er sehr erleichtert, als er endlich die ersehnten Universitätsabschlüsse als Bachelor und Master am Trinity College in Dublin erwerben kann. Dann übernimmt er einen Lehrstuhl für Mathematik an der University of Virginia (USA), auf den er nicht zuletzt dank der Empfehlungen von John Herschel, Charles Babbage und Augustus de Morgan ("Keine Person in diesem Land hat eine höhere Reputation als Mathematiker als Mr. Sylvester") berufen wird.

In der Tat genießt Sylvester auch ohne die formalen Universitätsabschlüsse bereits ein hohes Ansehen unter den Mathematikern in England; schon 1839 wird er als Fellow in die Royal Mathematical Society aufgenommen.

Mit den Arbeitsbedingungen an der amerikanischen Hochschule ist er jedoch nicht zufrieden. Als die Universitätsverwaltung keine ernsthaften Schritte unternimmt, um undisziplinierte Studenten zu maßregeln, beendet er nach kurzer Zeit seine Lehrtätigkeit. Zurück in England findet er Arbeit bei einer Versicherungsgesellschaft; auch erteilt er Unterricht an einer Schule (eine seiner Schülerinnen ist Florence Nightingale). Dann beschließt er, Anwalt zu werden, und absolviert eine Ausbildung bei der Anwaltskammer in London. Hier freundet er sich mit Arthur Cayley an, der das gleiche Berufsziel wie er verfolgt – aber ihre Gespräche drehen sich stets nur um mathematische Themen.

Auch während seiner Tätigkeit als Anwalt beschäftigt sich Sylvester mit dem Problem der Lösbarkeit von Gleichungen. 1851 entdeckt er für kubische Gleichungen ein Kriterium, womit Aussagen über die Anzahl und die Art der Lösungen möglich sind. Die Charakterisierung geschieht durch einen Term, für den er den Begriff Diskriminante prägt.

  • Ein solches Kriterium für quadratische Gleichungen lautet bekanntlich wie folgt: Eine quadratische Gleichung \(ax^2 + bx + c = 0\) hat zwei reelle Lösungen, wenn für die Koeffizienten \(a\), \(b\), \(c\) gilt, dass \(\Delta = b^2 – 4ac > 0\); sie besitzt nur eine reelle Lösung, wenn \(\Delta = 0\), und keine reelle Lösung, wenn \(\Delta < 0\). Die Diskriminante \(\Delta\) besteht hier aus zwei Summanden, die jeweils den Grad 2 haben.

  • Die Art der Lösungen von kubischen Gleichungen \(ax^3 + bx^2 + cx + d = 0\) kann man an der Diskriminante \( \Delta = b^2c^2 – 4ac^3 – 4b^3d – 27a^2d^2 + 18abcd \) ablesen, ein Term, dessen fünf Summanden jeweils den Grad 4 haben. Wenn \(\Delta > 0\), dann hat die Gleichung drei voneinander verschiedene Lösungen; wenn \(\Delta < 0\), dann hat die Gleichung eine reelle und zwei zueinander konjugiert komplexe Lösungen; wenn \(\Delta = 0\), dann sind alle Lösungen reell, aber mindestens zwei stimmen überein.

Die Diskriminanten für Gleichungen höheren Grades bestehen aus einer exponentiell wachsenden Anzahl von Summanden (4. Grades: 16; 5. Grades: 59; 6. Grades: 246). Die Terme lassen sich jedoch leicht dadurch gewinnen, dass man die Determinanten der zugehörigen Sylvester-Matrizen bestimmt: Die ersten \(n – 1\) Zeilen dieser Matrizen bestehen aus den Koeffizienten des Polynoms und die nächsten \(n\) Zeilen aus den Koeffizienten der 1. Ableitung des Polynoms:

2. Grad:

    \((-1)\cdot a \cdot \Delta_2 \) \(=\begin{vmatrix} a & b & c \\ 2a & b & 0 \\ 0 & 2a & b\end{vmatrix} \) \(= ab^2+4a^2c-2ab^2\) \(=4a^2c-ab^2\) \(=a \cdot (4ac-b^2)\)

3. Grad:

    \((-1)^3\cdot a \cdot \Delta_3 \) \(=\begin{vmatrix} a & b & c & d & 0 \\ 0 & a & b & c & d \\ 3a & 2b & c & 0 & 0\\ 0 & 3a & 2b & c & 0 \\ 0 & 0 & 3a & 2b & c \end{vmatrix} \) \(=\dots \) \(= a \cdot (b^2c^2-4ac^3-4b^3d-27a^2d^2+18abcd)\)

Die Terme werden einfacher, wenn man die Polynome normiert (also \(a = 1\) wählt) beziehungsweise durch eine Substitution den Summanden der zweithöchsten Potenz wegfallen lässt.

Der Tätigkeit als Anwalt überdrüssig, bewirbt er sich 1854 an verschiedenen Universitäten um eine Mathematikprofessur – zunächst ohne Erfolg. Als ein Kandidat, dem er zunächst unterlegen war, plötzlich stirbt, kann er endlich eine Stelle an einer Hochschule antreten – wenn auch nur an der Royal Military Academy in Woolwich.

1865 gehört er mit zu den Gründungsmitgliedern der London Mathematical Society. de Morgan wird der erste Präsident der Gesellschaft, Sylvester und Cayley werden seine beiden Nachfolger.

Nachdem Sylvester im Jahr 1870 – wie alle Angehörigen des Militärs  – im Alter von 55 Jahren zwangsweise pensioniert worden ist, verbringt er die meiste Zeit im Londoner Athenaeum Club. Er vertieft sich in die Gesetzmäßigkeiten der Verslehre und übersetzt Gedichte aus dem Französischen, Deutschen, Italienischen, Lateinischen und Griechischen; mit eigenen Gedichten ist er weniger erfolgreich. Erst als Tschebyschow London besucht und die beiden über mechanische Vorrichtungen ins Gespräch kommen, durch welche die Kreisbewegungen in lineare Bewegungen umgesetzt werden können, beschäftigt er sich wieder mit mathematischen Problemen.

1877 nimmt er einen Ruf der neu gegründeten Johns Hopkins University in Baltimore an, wo er auch endlich Studenten vorfindet, die an mathematischer Forschung interessiert sind. Innerhalb von sieben Jahren betreut er neun Doktorarbeiten. Er gründet die Zeitschrift American Journal of Mathematics und verfasst auch selbst wieder eigene Beiträge. Allerdings fühlt er sich zunehmend der großen Verantwortung nicht mehr gewachsen, die er mit der Übernahme der Professur an einer amerikanischen Universität übernommen hat, in einem Land, dessen Hochschulen und Forschungsinstitute damit begonnen haben, den europäischen Einrichtungen den Rang abzulaufen.

So entschließt er sich im Alter von 68 Jahren, nach Oxford zu gehen, um den angesehenen Savilian Chair of Geometry zu übernehmen. Eigentlich ist er verpflichtet, bis zu seinem Lebensende vor allem Vorlesungen über die klassische Geometrie der Griechen zu halten, aber ihn interessieren andere Themen mehr. Als seine geistige und körperliche Verfassung nachlässt, wird für ihn ein Vertreter am Lehrstuhl eingesetzt. Die letzten Jahre verbringt er dann wieder in seinem Club in London.

Im Laufe seiner aktiven Zeit beschäftigt sich Sylvester mit einer Fülle von Themen, und in beinahe jedem Beitrag erfindet er neue Begriffe, von denen sich etliche auch auf Dauer durchsetzen wie zum Beispiel die Begriffe Matrix und Invariante.

An Sylvester erinnern auch heute noch zahlreiche Sätze der Mathematik, die seinen Namen tragen. Beispielsweise wird ein Satz der Linearen Algebra als Trägheitssatz von Sylvester bezeichnet.

Hierbei geht es um quadratische Formen, das heißt um Terme, in denen die Produkte der Variablen vom Grad 2 sind (zum Beispiel für \(n=2\): \(ax^2+bxy+cy^2\) oder für \(n=3\):

\(ax^2+by^2+cz^2+dxy+exz+fyz\). Durch eine geeignete Wahl des Koordinatensystems kann jede quadratische Form so dargestellt werden, dass im Term nur noch Variablen im Quadrat vorkommen (also in den Beispielen: \(x'^2\) und \(y'^2\) beziehungsweise \(x'^2\), \(y'^2\) und \(z'^2\)) und als Koeffizienten nur die Zahlen \(0, +1, -1\). Der Satz von Sylvester besagt, dass die Anzahl der Koeffizienten \(0, +1, -1\) unabhängig (invariant) ist von der Wahl des geeigneten Koordinatensystems.

In der Zahlentheorie prägt er den seitdem im Englischen üblichen Begriff der totient function für die Euler'sche \(\varphi\)-Funktion, wobei \(\varphi(n)\) = Anzahl der zur natürlichen Zahl \(n\) teilerfremden Zahlen zwischen \(1\) und \(n\).

In der Kombinatorik führt Sylvester die Idee ein, unterschiedliche Partitionen (Darstellung von Zahlen als Summen) mithilfe von Graphen zu veranschaulichen (die Verwendung des Begriffs Graph in diesem Zusammenhang stammt ebenfalls von ihm).

Eine Regel der Stochastik ist nach Sylvester benannt, die sogenannte Ein- und Ausschaltregel zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit \(P\) eines oder von mehreren Ereignissen, zum Beispiel für drei Ereignisse \(E_1\), \(E_2\), \(E_3\):

\(P(E_1 \cup E_2 \cup E_3)\) \( = \Big[ P(E_1) + P(E_2) + P(E_3) \Big]\) \( – \Big[ P(E_1\cap E_2) + P(E_1 \cap E_3) + P(E_2 \cap E_3) \Big] \) \( + P (E_1 \cap E_2 \cap E_3) \)

Sylvester untersucht ägyptische Brüche und insbesondere das Problem, einen Bruch mithilfe einer möglichst geringen Anzahl von Stammbrüchen darzustellen (Sylvester-Algorithmus).

Er beweist, dass für die Nullstellen der Funktion \(f_n\) mit \(f_n(x)=1 + \frac{x}{1!} + \frac{x^2}{2!} + \frac{x^3}{3!}+ \dots + \frac{x^n}{n!}\) gilt: Ist \(n\) gerade, dann hat \(f_n\) keine Nullstelle; ist \(n\) ungerade, dann existiert genau eine Nullstelle, die im negativem Bereich liegt.

Er entdeckt den Satz Jede natürliche Zahl \(n > 2\) hat genau so viele Darstellungen als Summe aufeinander folgender natürlicher Zahlen, wie sie ungerade Teiler hat (ohne die Zahl 1, aber gegebenenfalls mit der Zahl \( n\)).

Beispiel: \(2014\) hat die ungeraden Teiler \(19\), \(53\) und \(1007\); demnach gibt es drei Möglichkeiten, und zwar: \(97+98+ \dots +115\) \( = 12+13+ \dots +64\) \( = 502+503+504+505\) \( = 2014\).

An die Zeitschrift Educational Times schickt er verschiedene Aufgaben zur Veröffentlichung, wobei der Beweis des zweiten Problems erst 1933 dem ungarischen Mathematiker Tibor Gallai, einem Freund von Paul Erdős, befriedigend gelingt:

  • Angenommen, man hat eine große Anzahl von 5d- und von 17d-Briefmarken. Welches ist der größte Portobetrag, den man NICHT durch eine Kombination der beiden Werte frankieren kann?
  • Eine endliche Menge \(S\) von Punkten in der Ebene hat die Eigenschaft, dass jede Gerade durch zwei Punkte auch durch einen dritten Punkt der Menge \(S\) verläuft. Zeige, dass dann alle Punkte auf einer Geraden liegen.

Aufgrund seiner zahlreichen Beiträge zu verschiedenen Gebieten der Mathematik wird Sylvester auch von ausländischen Institutionen vielfach geehrt; seine Verdienste insbesondere in der Kombinatorik, der Entwicklung der Theorie der Matrizen und Determinanten sowie der Invarianten sind unbestritten. Jedoch erfahren seine Arbeit und seine Arbeitsweise schon zu Lebzeiten oft heftige Kritik.

In einem Nachruf stellt Max Noether die Leistungen Sylvesters umfassend heraus, geht dann aber hart mit ihm ins Gericht: ... keine der Arbeiten zeigt das Verlangen, den Gegenstand erst nach allen Seiten zu vertiefen und ausreifen zu lassen: jede bloße Vermutung, häufig das während des Druckes Konzipierte, völlig Unreife oder Falsche wird mit größter Sorglosigkeit, immer unter völliger Literaturunkenntnis, im Moment des Entstehens in die Öffentlichkeit hinausgeworfen, ohne dass je eine Spur von Selbstkritik gewaltet hat. ... Sylvester war kein harmonisch veranlagter oder ausgeglichener Geist, sondern ein instinktiv schaffender schöpferischer Kopf, ohne Selbstzucht.

James Joseph Sylvester (1814 – 1897)

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