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Der Mathematische Monatskalender: Johann Faulhaber (1580–1635)

Johann Faulhaber ist Schulmeister in Ulm; über die Stadt hinaus werden seine Rechenfähigkeiten hoch geschätzt.
Johann Faulhaber (1580–1635)

Im Jahr 1992 gelang es dem bekannten amerikanischen Informatiker Donald E. Knuth, ein 360 Jahre altes Rätsel zu lösen: In seiner Abhandlung Johann Faulhaber and sums of powers präsentierte er eine plausible Erklärung dafür, wie dieser deutsche Rechenmeister am Anfang des 17. Jahrhunderts einen Weg fand, Formeln für die Summen von Potenzen natürlicher Zahlen bis zum Exponenten 17 zu entwickeln. Seitdem sind die von Knuth eingeführten Bezeichnungen Faulhaber'sche Formeln bzw. Faulhaber'sche Polynome in der Fachliteratur allgemein üblich.

Johann Faulhaber wird als siebtes Kind eines Webers in Ulm geboren. Der Vater stirbt, als der Junge drei Jahre alt ist. Die Mutter führt die Werkstatt mit Unterstützung des Gesellen weiter; auch der Junge lernt schon früh das Handwerk seines Vaters kennen. Im Alter von 15 Jahren tritt er in die Lehre des Rechenmeisters und Kunstschreibers David Selzlin ein, der heute wegen seiner außergewöhnlich präzisen Karte des Schwäbischen Kreises vor allem als Kartograph bekannt ist.

Im Anschluss an die Lehre arbeitet Faulhaber eineinhalb Jahre für den Rechen- und Eichmeister Johann Kraft, der ihm später "die Pest an den Hals wünscht", als sich sein Schüler als der erfolgreichere von beiden herausstellt. Faulhaber ist äußerst wissbegierig und offensichtlich begabt, sich die benötigten Fachkenntnisse anzueignen.

Nach einer erfolglosen Bewerbung in Biberach tritt Faulhaber im Jahr 1600 dann eine Stelle als deutscher Schulmeister in Ulm an, heiratet und gründet eine Familie. Nur drei der neun Kinder überleben die ersten Lebensjahre.

Von dem vom Ulmer Magistrat an ihn bezahlten Salär kann Faulhaber im Prinzip gut leben, zeitweise kann er sogar Helfer einstellen. Wegen der vielen Sterbefälle schwanken die Schülerzahlen allerdings sehr stark. Zu seinen Aufgaben als Schulmeister gehört auch die Unterbringung und Verpflegung der angemeldeten Kinder.

Um sich finanziell abzusichern, bietet Faulhaber zusätzlich Privatunterricht für interessierte Erwachsene an. Als Werbemaßnahme hierfür erscheint 1604 sein erstes Werk Arithmetischer Cubicossischer Lustgarten.

Das Wort Cubicossisch weist einerseits auf die Tradition der deutschen Cossisten hin (zu diesen ersten Algebraikern zählen u. a. Adam Ries und Michael Stifel), andererseits auf viele der im Buch enthaltenen Aufgaben, zu deren Bearbeitung man Verfahren zur Lösung kubischer Gleichungen benötigt. Faulhaber hat kein Problem damit, die Quellen anzugeben, aus denen er Anregungen für seine Aufgaben erhalten hat. Vielmehr stellt er dadurch gerade seine Kompetenz heraus, wenn er darauf verweisen kann, dass er Aufgaben von anderen Rechenmeistern hat lösen können. Insbesondere verweist er auf die Ars magna von Girolamo Cardano, die 1545 in Nürnberg erschienen war. Zwar hatte er bis dahin keine Möglichkeit, die Wissenschaftssprache Latein zu erlernen, und kann daher Cardanos Werk nicht im Original lesen; er findet aber Helfer, die ihm den Text übersetzen. Im Laufe der Jahre eignet er sich Grundkenntnisse in Latein, Französisch und Italienisch an.

Nürnberg ist in jenen Tagen ein Ort, in dem zahlreiche mathematische Werke gedruckt werden. Faulhaber bemüht sich, möglichst alle deutschsprachigen Neuerscheinungen zu erwerben, und er erschließt für sich eine weitere Quelle: Wenn er vom Ableben eines Rechenmeisters erfährt, bietet er den Witwen an, die hinterlassenen Notizen aufzukaufen.

Eine besondere Rolle in Faulhabers Buch spielen auch die so genannten Polygonalzahlen, also Zahlen, die sich auch als Punktmuster in Form von regelmäßigen Polygonen darstellen lassen, zum Beispiel Dreiecks-, Quadrat- und Pentagonalzahlen.

Da Faulhaber sein Buch vor allem zu Werbezwecken herausgebracht hatte, enthält es zwar die Lösungen aller 160 Aufgaben, aber nicht die Lösungswege. Dies ist bei den Rechenmeistern der damaligen Zeit durchaus üblich: Wer auch in die Lage versetzt werden möchte, solche Aufgaben zu lösen, soll Privatunterricht beim Autor nehmen. Faulhaber wird als Angehöriger der Weberzunft auch Mitglied der "ehrbaren Gesellschaft" der Ulmer Meistersinger, verfasst Lieder mit religiösem Inhalt. Von seinen eigenen kompositorischen wie mathematischen Fähigkeiten ist er selbst so angetan, dass er an eine unmittelbar von Gott stammende Eingebung glaubt, die ihn befähigt, gewisse Zahlen aus der Bibel (mit denen sich bereits Stifel beschäftigt hatte) dahingehend zu deuten, dass Ende 1606 das Jüngste Gericht bevorsteht. Vorübergehend wird er wegen dieser Fantastereyen eingesperrt und vom Abendmahl ausgeschlossen.

Dass die Konkurrenz nicht schläft, merkt Faulhaber 1608, als der Rechenmeister Peter Roth aus Nürnberg das Werk Arithmetica Philosophica veröffentlicht, in dem u. a. die Lösungen aller 160 Aufgaben des Faulhaber'schen Lustgartens enthalten sind. Er stellt verschiedene Überlegungen an, wie er darauf reagieren soll: Ein Gedanke ist, selbst die Lösungswege als Billigdruck zu veröffentlichen, um so das Buch des Konkurrenten weniger attraktiv erscheinen zu lassen, oder Roth durch Veröffentlichung von Aufgabenlösungen zu dessen Buch zu schädigen, oder mit ihm eine Absprache über die Verkaufsgebiete für die beiden Bücher zu treffen.

Schließlich unterlässt Faulhaber aber konkrete Maßnahmen, weil er sich mittlerweile mehr für andere Themen interessiert: perspektivisches Zeichnen, Vermessungskunde und Festungsbau. 1610 erscheint das Buch Newe geometrische und perspektivische Inventiones etlicher sonderbahrer Instrument. Auch hier deutet er vieles nur an (zum Beispiel wie man den von ihm entwickelten Proportionalzirkel verwenden kann), um auch so wieder Interessenten für Privatunterricht anzuwerben.

Da er sich keine Genehmigung des Ulmer Magistrats für die Veröffentlichung eingeholt hatte, wird vorübergehend die Zahlung des Salärs gestrichen, dann aber wieder genehmigt und sogar eine Zusatzvergütung für das neue Buch gewährt, da Faulhaber durch das neue Buch weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt geworden ist, was die Bedeutung der Stadt aufwertet. Sein 1612 veröffentlichtes Buch Newer Mathematischer Kunstspiegel wird sogar ins Lateinische übersetzt.

Über die fachlichen Inhalte hinaus enthalten auch die neuen Schriften abenteuerliche Zahlenspekulationen, die zu Auseinandersetzungen mit der Zensurbehörde führen. Faulhaber ist hier überhaupt nicht einsichtig. Er ist überzeugt, dass Gott sich bei der Deutung der apokalyptischen Zahlen besonderer, auserwählter Menschen bedient, und nur diesen wird die notwendige Erleuchtung zuteil, und er, Faulhaber, sei eben ein solcher Auserwählter. Die Auseinandersetzung mit dem Magistrat und mit orthodoxen protestantischen Theologen der Universität Tübingen verschärft sich 1613 nach der Veröffentlichung weiterer Bücher (Himlische gehaime Magia und Andeutung einer vnerhorten Wunderkunst).

Dennoch wird er 1617 vom Magistrat der Stadt Ulm beauftragt, einen Kalender für das folgende Jahr zu erstellen. Eine von Johannes Kepler berechnete besondere Konstellation von Mars und Mond nimmt er zum Anlass, das Erscheinen eines "grausamen" Kometen für den 1. September vorherzusagen. Als dann tatsächlich Ende 1618 sogar zwei Kometen zu sehen sind (die Faulhaber fälschlicherweise für identisch hält), sieht er sich bestätigt und kündigt den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang an. Seine Schrift Fama siderea nova führt zum sog. Ulmer Kometenstreit, unter anderem mit Johann Baptist Hebenstreit, dem Rektor des Ulmer Gymnasiums. Ein mit Rücksicht auf die nicht ausreichenden Latein-Kenntnisse Faulhabers in deutscher Sprache geführtes Kolloquium, ob Kometen natürliche Erscheinungen sind oder Warnzeichen Gottes, wird von den Anhängern beider Parteien jeweils als erfolgreich bewertet.

Ob es 1620 zu einer Begegnung zwischen Faulhaber und René Descartes gekommen ist und ob der junge Franzose, der als Offizier in bayrischen Kriegsdiensten steht, sogar Unterricht bei dem Rechenmeister genommen hat, lässt sich mit den zur Verfügung stehenden Quellen nicht mehr klären. Man kann davon ausgehen, dass Descartes wohl Kenntnis der mathematischen Schriften Faulhabers hatte, sich aber kaum von dessen kabbalistischen Zahlenspekulationen beeindrucken ließ.

Im beginnenden Dreißigjährigen Krieg versuchen die Städte, sich durch stärkere Befestigungsanlagen vor den in Deutschland einfallenden Heeren zu schützen. Aufgrund seiner erfolgreichen Arbeit in Ulm wird Faulhaber von mehreren Städten als Berater hinzugezogen (Basel, Frankfurt, Meiningen und anderen mehr); sein Ansehen wächst weit über die Region hinaus. So hofft er auch auf "Privilegien" seitens der jeweiligen Landesherren, die seine Werke vor Plagiaten schützen sollen.

Nach erneuten Auseinandersetzungen mit den städtischen Institutionen flieht Faulhaber 1621 nach Augsburg, wo er im folgenden Jahr Miracula Arithmetica veröffentlicht. Er erläutert mit Worten, wie man allgemein das zweithöchste Glied eines Polynoms \(n\)-ten Grades eliminieren kann:

\(x^n+a_1x^{n-1} + a_2 x^{n-2} + ... + a_{n-1} x+ a_n\) geht durch die Substitution:

\(x = y− \frac{1}{n} \cdot a_1\) über in das Polynom:

\(y^n+b_2y^{n-2} + ... + b_{n-1}y +b_n\) (hier in der heute üblichen Schreibweise notiert).

Dass sich Terme 4. Grades als Produkt von zwei quadratischen Termen darstellen lassen, deren Koeffizienten durch Vergleich ermittelt werden können, stellt er als seine besondere "Erfindung" heraus. Descartes benutzt einen ähnlichen Ansatz im Anhang La Géométrie von Discours de la méthode (1637).

In den Miracula Arithmetica findet man auch einen von Faulhaber entdeckten Satz, die "räumliche Version des Satzes von Pythagoras":

Schneidet man an einem Quader eine Ecke ab, so ist diese räumliche Ecke ein Tetraeder mit drei rechtwinkligen Dreiecken als Seitenflächen. Zwischen dem Flächeninhalt \(A\) der Grundfläche des Tetraeders und den Flächeninhalten \(A_1\), \(A_2\), \(A_3\) der Seitenflächen besteht dann der Zusammenhang:

\(A^2=A_1^2+A_2^2+A_3^2\)

Faulhabers Werk beginnt mit einer Tabelle, die ahnen lässt, mit welchen Ideen er Formeln für die Summen von Potenzen natürlicher Zahlen gefunden hat. (Faulhaber-Biograph Ivo Schneider bezeichnet dies als Weberschiffchen-Technik; er ist der Überzeugung, dass Faulhabers Ausbildung als Weber entscheidend dafür war, dass dieser mit schnellem Blick auf die Spalteninhalte Zusammenhänge erkannte.)

Faulhaber vergleicht hier die Folge der natürlichen Zahlen \(n\) und die Folge der Potenzen \(n^2\) und \(n^3\) mit dem \(n\)-Fachen der zugehörigen Summenfolgen \(s\) und wiederum deren Summenfolgen, und entdeckt so den Zusammenhang:

\(n \cdot s(n^2)- s(n^3)=s\big(s(n^2)\big)-s(n^2),\)

woraus sich eine Formel für die Summe der ersten \(n\) Kubikzahlen ergibt:

\(s(n^3)=(n+1)\cdot s(n^2)-s\big(s(n^2)\big) \)

Für höhere Potenzen macht er einen Zerlegungsansatz wie zum Beispiel:

\( s(n^4)=s(n^2)\cdot \big(a\cdot s(n)+b\big);\)

die Werte der Koeffizienten erhält er durch Einsetzen:

\( a=\frac{6}{5}\) und \(b=-\frac{1}{5}\).

Weitere Summenformeln findet man auch in der Schrift Academia Algebrae (1631). Jakob Bernoulli beruft sich in seinen Untersuchungen zu Potenzsummen auf die Ansätze Faulhabers und entwickelt Darstellungen mithilfe der (später nach ihm benannten) Bernoulli-Zahlen.

Den krönenden Abschluss der mathematischen Schriften Faulhabers bildet das vierbändige Werk Ingenieurs-Schul (1630 und 1633), in denen er unter anderem ausführlich auf das Rechnen mit den Briggs'schen Logarithmen eingeht. Das Werk enthält aber auch die Aufgabe, den Radius des Umkreises eines 7-Ecks mit den Seitenlängen 2300, 1600, 1290, 1000, 666, 1260 und 1335 zu bestimmen, also den apokalyptischen Zahlen von Michael Stifel.

Der geniale Mathematiker Johann Faulhaber, oft als "der deutsche Archimedes" bezeichnet, stirbt 1635 in Ulm an der Pest, zusammen mit seiner Frau.

Johann Faulhaber (1580–1635)

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