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Der Mathematische Monatskalender: John Wallis (1616–1703)

John Wallis, eigentlich Theologe, wird ohne akademische Vorbildung auf einen traditionsreichen Lehrstuhl für Geometrie gesetzt – und füllt dieses Amt 50 Jahre lang in vorbildlicher Weise aus.
John Wallis

John Wallis wird als drittes von fünf Kindern eines Pfarrers in Ashford (Kent) geboren. Da trotz des frühen Tods des Vaters die finanzielle Situation der Familie gesichert ist, kann John eine Schule besuchen, zunächst in der Nähe, dann in Essex. Hier wird besonderer Wert auf das Erlernen der alten Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch gelegt, Mathematik spielt keine Rolle. Rückblickend stellt Wallis später fest, dass für ihn Mathematik etwas war, was beispielsweise Kaufleute oder Landvermesser lernen müssen. Auch der Wechsel an ein College in Cambridge verändert diese Situation kaum; Fächer wie Ethik, Metaphysik, Geographie, Astronomie und Anatomie stehen in der Stundentafel der Studenten. Mit 21 Jahren erreicht Wallis den Abschluss eines Bachelor of Arts, mit 24 Jahren den Master of Arts. Ein Jahr später wird er zum Priester geweiht und als Kaplan in Yorkshire tätig.

In dieser Zeit verschärfen sich die Auseinandersetzungen zwischen der Mehrheit der Abgeordneten des Unterhauses und dem König Charles I., der absolutistisch regiert und wiederholt die Rechte des Parlaments missachtet. Der Versuch des Königs, die Anführer der Abgeordneten, unter anderem John Pym und Oliver Comwell, im Parlament verhaften zu lassen, führt schließlich zum Bürgerkrieg zwischen den Royalisten und den Parlamentaristen. Nach einer der Schlachten des Krieges wird ein Bote der königstreuen Truppen mit einer verschlüsselten Nachricht aufgegriffen. John Wallis schaut sich die Folge von Schriftzeichen an, erkennt Muster, und keine zwei Stunden später hat er die in dem Brief enthaltene Nachricht entziffert. Von da an nutzen die Parlamentaristen seine Fähigkeit, abgefangene Botschaften der gegnerischen Partei zu entschlüsseln.

Nachdem die Anhänger Cromwells ihre Macht im Land gefestigt haben, belohnen sie Wallis, indem sie ihn als Pfarrer in einer reichen Londoner Gemeinde einsetzen. 1644 wird er sogar zum Sekretär der Geistlichkeit von Westminster ernannt und Mitglied (fellow) am Queen’s College in Cambridge.

Nach seiner Heirat im März 1645 muss Wallis dieses Amt aufgeben (fellows dürfen nicht verheiratet sein), und er kehrt wieder nach London zurück. Dort trifft er sich wöchentlich mit einer Gruppe von Gelehrten, die sich selbst klare Regeln auferlegen: keine politischen oder religiösen Themen, nur philosophische, naturwissenschaftliche und medizinische Fragestellungen sollen eine Rolle spielen – aus dieser Gruppe entwickelt sich die Royal Society, die im Jahr 1660 offiziell gegründet und vom (neuen) König bestätigt wird.

Das Leben von John Wallis erhält im Jahr 1647 eine entscheidende Wendung: Ihm fällt das 1631 erschienene Werk Clavis Mathematicae (Der Schlüssel zur Mathematik) von William Oughtred in die Hände. In dieser nur 88 Seiten umfassenden Einführung in die elementare Algebra wird zunächst die indisch-arabische Schreibweise erläutert, dann das Rechnen mit Dezimalzahlen erklärt. Für die Operation des Multiplizieren hat Oughtred das Zeichen "\(\times\)" erfunden, für das Dividieren das Zeichen "/".

Diese Schreibweisen setzen sich im englisch-sprachigen Raum durch, das Symbol "::" für Proportionalität hingegen nicht. Oughtred ist der Erste, der die Kreiszahl mit "\(\pi\)" bezeichnet. Auch gilt er als der Erfinder des Rechenschiebers mit logarithmischen Skalen, wobei sich sein kreisförmiges Modell allerdings nicht durchsetzt. Wallis, der sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht mit mathematischen Fragestellungen beschäftigt hat, ist so fasziniert von Oughtreds Abhandlung, dass er sie in kurzer Zeit durcharbeitet. Dann beginnt er selbst, eigene mathematische Untersuchungen anzustellen.

Als Dank für seine Unterstützung im Kampf gegen die Royalisten ernennt Cromwell Wallis zum Professor für Geometrie an der Universität Oxford, nachdem er den bisherigen (königstreuen) Lehrstuhlinhaber Peter Turner entlassen hat. Dieser Savilian Chair of Geometry ist 1619 von Henry Savile gestiftet worden, als dieser mit großem Bedauern feststellte, dass die klassische euklidische Geometrie in England allzu sehr vernachlässigt wird (almost totally unknown and abandoned). Der jeweilige Inhaber des auch heute noch angesehenen Lehrstuhls ist verpflichtet, über die Elemente des Euklid, die Kegelschnitte des Apollonius von Perge und die Schriften des Archimedes Vorlesungen zu halten. Henry Briggs, Erfinder der dekadischen Logarithmen, ist der erste Lehrstuhlinhaber. Nach dem Tod von Wallis wird Edmond Halley zum Nachfolger ernannt. Im Laufe der Jahrhunderte findet man so berühmte Namen wie James Joseph Sylvester (ab 1883) und Godfrey Harold Hardy (ab 1920) auf der Liste der Amtsträger.

Wallis nimmt die Aufgaben des neuen Amtes bis zu seinem Tod wahr, also über 50 Jahre lang. Auch wenn seine Einsetzung in das Amt eigentlich nicht gerechtfertigt war, so erweist er sich als überaus würdiger Inhaber des Lehrstuhls. Im Rahmen seiner Beschäftigung mit den Schriften antiker Wissenschaftler rekonstruiert er Texte von Aristarch, Archimedes und Ptolemäus.

Da Wallis kein blinder Anhänger der Parlamentaristen ist, gehört er zu den Unterzeichnern einer Petition, die sich gegen eine Hinrichtung des bisherigen Königs Charles I. richtet. Als dann 1660 die Monarchie in England wieder eingeführt wird, bestätigt der neue König Charles II. nicht nur die Einsetzung von Wallis auf dem Savillian Chair, sondern ernennt ihn auch noch zum königlichen Kaplan und beruft ihn, in der Zwischenzeit zum Doktor der Theologie promoviert, als Mitglied einer Kommission, die ein neues Gebetbuch für die anglikanische Kirche erstellen soll.

Mit großem Interesse studiert Wallis die mathematischen Werke von Kepler, Torricelli und Descartes und entwickelt deren Ideen weiter. 1652 verfasst er De sectionibus conicis, in der er Parabeln, Ellipsen und Hyperbeln nicht geometrisch, sondern mithilfe von Koordinatengleichungen beschreibt. Auch verwendet er in diesem Werk als Erster das Symbol "\(\infty\)" (möglicherweise von ihm ausgewählt, weil man die geschlossene Kurve unendlich oft durchlaufen kann).

1656 veröffentlicht er Arithmetica infinitorum, ein Werk über Flächenbestimmungen. Bei den Herleitungen geht er induktiv vor, das heißt, er macht die Richtigkeit von Formeln durch eine Folge von Beispielen plausibel. Aus den Beispielen:

\(\begin{eqnarray} \frac{0+1}{1+1} &= \frac{1}{3} + \frac{1}{6},\\ \frac{0+1+4}{4+4+4} &= \frac{1}{3} + \frac{1}{12}, \\ \frac{0+1+4+9}{9+9+9+9} &= \frac{1}{3} + \frac{1}{18}, \\ \frac{0+1+4+9+16}{16+16+16+16+16} &= \frac{1}{3} + \frac{1}{24} \end{eqnarray} \)

folgert er, dass allgemein gilt:\[ \frac{0^2+1^2+2^2+...+n^2}{n^2+n^2+n^2+...+n^2}=\frac{1}{3}+\frac{1}{6^n}\]

Dieser Term konvergiert mit wachsendem \(n\) gegen \( \frac{1}{3} \): Der Bruch ... wird stetig kleiner, so dass er endlich kleiner als jeder beliebige angebbare Wert wird, und wenn man bis ins Unendliche die Versuche ausdehnt, geradezu verschwindet.

Zur Bestimmung des Inhalts des Flächenstücks unter der Parabel mit \(y = x^2\) betrachtet er das Verhältnis, in dem die Fläche eines Rechtecks mit der Breite \(na\) und der Höhe \((na)^2\) durch eine Parabelkurve unterteilt wird: \[\frac{0^2+a^2+(2a)^2+...+(na)^2}{(na)^2+(na)^2+ (na)^2+...+(na)^2}\]

Im Zähler des Buchs stehen die Höhen der \(n\) Streifen der Breite \(a\) bis zur Kurve, im Nenner die zugehörigen Streifen des Rechtecks. Aus den oben angegebenen Überlegungen ergibt sich unmittelbar, dass für wachsendes \(n\) bei kleiner werdendem \(a\) das Flächenverhältnis gegen \( \frac{1}{3} \) konvergiert. Da dies bereits Archimedes bekannt war, sieht sich Wallis in seiner Vorgehensweise bestätigt. Für die Summe der Kubikzahlen findet er heraus:

\(\begin{eqnarray} \frac{0+1}{1+1} &= \frac{1}{4} + \frac{1}{4},\\ \frac{0+1+8}{8+8+8} &= \frac{1}{4} + \frac{1}{8}, \\ \frac{0+1+8+27}{27+27+27+27} &= \frac{1}{4} + \frac{1}{12}, \\ \frac{0+1+8+27+64}{64+64+64+64+64} &= \frac{1}{4} + \frac{1}{16} \end{eqnarray} \)

Also allgemein:\[\frac{0^3+1^3+2^3+...+n^3}{n^3+n^3+n^3+...+n^3}=\frac{1}{4}+\frac{1}{4n}\] mit Grenzwert \(\frac{1}{4}\). Also schließt er, dass die Eigenschaft \[\lim_{n\to\infty} \left( \frac{0^k+1^k+2^k+...n^k}{n^k+n^k+n^k+...+n^k} \right)= \frac{1}{k+1}\] allgemein gilt.

Weiter überlegt Wallis: Da das Flächenstück oberhalb der Parabel mit \(y = x^2\) zwei Drittel der zugehörigen Rechteckfläche einnimmt, muss für die Umkehrfunktion mit \(y = \sqrt{x}\) gelten: \[\lim_{n\to\infty} \left( \frac{\sqrt{0}+\sqrt{1}+\sqrt{2}+...+\sqrt{n}}{\sqrt{n}+\sqrt{n}+\sqrt{n}+...+\sqrt{n}} \right) = \frac{2}{3}\] Und da \(\frac{2}{3}=\frac{1}{\frac{1}{2}+1}\), folgt in Analogie zur oben angegebenen Formel, dass man statt \(\sqrt{x}\) auch \(x^{\frac{1}{2}}\) schreiben kann, statt \(\sqrt[3]{x}\) auch \(x^{\frac{1}{3}}\) und so weiter, und dass der Anteil der Fläche des Rechtecks, der unter dem Graphen einer Potenzfunktion mit Exponent \(\frac{p}{q}\) liegt, gleich \(\frac{1}{\frac{p}{q}+1}=\frac{q}{p+q}\) ist. Diese Regel ist bereits von Mathematikern vor Wallis angegeben worden, aber der eingeschlagene arithmetische Weg ist neu.

Sein geniales Gespür, aus Beispielen auf allgemein gültige Formeln zu schließen, zeigt sich noch stärker bei seiner Untersuchung von Funktionen des Typs \(y=\left( 1-x^{\frac{1}{m}}\right)^n\) auf dem Intervall \([ 0 , 1 ]\): Mithilfe der bisherigen Methoden (hier in moderner Schreibweise notiert) kann \(A(m;n)\) für \(m = \frac{1}{2}\) berechnet werden:

\(\begin{split} A\left( \frac{1}{2}; 0\right) &= \int_0^1 (1-x^2)^0\ dx =1,\\ A\left( \frac{1}{2}; 1\right) &= \int_0^1 (1-x^2)^1\ dx =\frac{2}{3},\\ A\left( \frac{1}{2}; 2\right) &= \int_0^1 (1-x^2)^2\ dx =\frac{8}{15} = \frac{2\cdot 4}{3\cdot 5},\\ A\left( \frac{1}{2}; 3\right) &= \int_0^1 (1-x^2)^3\ dx =\frac{16}{35} = \frac{4\cdot 4}{5\cdot 7} \end{split}\)

Durch Interpolation (dieser Begriff stammt ebenfalls von Wallis) findet er für \(A\left( \frac{1}{2}; \frac{1}{2}\right) = \int_0^1 (1-x^2)^\frac{1}{2}\ dx\) einen Term, der in diese Folge „passt“. Andererseits ist \(A\left( \frac{1}{2}; \frac{1}{2}\right) \) gleich dem Flächeninhalt eines Viertelkreises mit Radius \(1\), also \(\frac{1}{4}\cdot \pi\).

Auf diese Weise gelangt er zu jener berühmten Formel für die Berechnung von \(\pi\): \[\frac{4}{\pi}=\frac{1\cdot 3 \cdot 3 \cdot 5 \cdot 5 \cdot 7 \cdot ...}{2 \cdot 4 \cdot 4 \cdot 6 \cdot 6 \cdot 8 \cdot ...},\] die heute als Wallis'sches Produkt bezeichnet wird.

In späten Jahren erscheint 1685 mit Treatise on Algebra ein Werk, das viele der von ihm untersuchten Themen aufgreift. Es enthält unter anderem Erläuterungen zum Rechnen mit negativen Zahlen auf einer Zahlengeraden (er ist der Erste, der eine solche verwendet) sowie Lösungsverfahren für Gleichungen (Wallis akzeptiert auch komplexe Zahlen als Lösungen). Darüber hinaus stellt er die Beziehungen zwischen Geometrie und Algebra dar, vergleicht Indivisiblen- und Exhaustions-Methode und gibt eine Einführung in die Theorie der unendlichen Reihen. Vor allem ist es ihm wichtig herauszustellen, welchen Anteil englische Gelehrte an der Entwicklung der Mathematik haben.

Wallis hat sich in all den Jahren auch weiter mit Kryptologie beschäftigt, außerdem Abhandlungen zu verschiedenen Gebieten verfasst, unter anderem über die Grammatik der englischen Sprache, über Phonetik, zur Bewegungslehre und zur Logik. Wenn Isaac Newton später in Bescheidenheit anmerkt, dass seine Lebensleistung nicht ohne die seiner Vorgänger möglich gewesen wäre (… standing on the shoulders of giants …), dann ist festzustellen, dass Wallis zweifelsohne einer dieser "Riesen" war.

John Wallis (1616-1703)

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