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Der Mathematische Monatskalender: Bertrand Russell (1872–1970): Die Logik des Friedens

»Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heutige Meinung war einmal exzentrisch«, so die Maxime von Bertrand Russell, der Mathematik und Philosophie nachhaltig prägte und dem Nonkonformismus auch in seinem gesellschaftlichen Engagement treu blieb.
Bertrand Russell

Bertrand Arthur William Russell wird als zweiter Sohn in einer einflussreichen britischen Adelsfamilie geboren; der Großvater John Russell, erster Earl Russell, war viele Jahre lang Regierungsmitglied, zeitweise Premierminister unter Queen Victoria. Als innerhalb weniger Jahre beide Eltern und auch der Großvater sterben, übernimmt die Großmutter die Erziehung der beiden Jungen. Bertrand wird von Privatlehrern unterrichtet und hat kaum Kontakte zu Gleichaltrigen; in der im Alter verfassten Autobiografie beschreibt er seine Jugend als unglücklich.

Mit 20 Jahren nimmt er ein Studium der Mathematik und der Philosophie am berühmten Trinity College in Cambridge auf und schließt nach vier Jahren in beiden Fächern mit Bestnoten ab. Auch diese Phase bezeichnet er später als ineffektiv und bis auf die Kontakte zu späteren Weggefährten (Alfred North Whitehead, John Maynard Keynes) als wenig erfreulich. Von 1895 bis 1901 erhält er ein Forschungsstipendium ohne Lehrverpflichtung, das er vielseitig nutzt. Erste Arbeiten beschäftigen sich mit den philosophischen Grundlagen der Mathematik; in seiner Dissertation An essay on the foundations of geometry versucht er die Kantschen Raum-Vorstellungen mit den neuen Erkenntnissen über nicht-euklidische Geometrie zu versöhnen. In dem Artikel The teaching of Euclid zeigt er die Schwächen im logischen Aufbau der »Elemente« auf – ein Kritiker bemerkt einige Jahre später: Euklids Hauptfehler war es, dass er Russells Veröffentlichungen nicht gelesen hat.

Sein Beitrag A critical exposition of the philosophy of Leibniz trägt zur späten Rehabilitation des deutschen Philosophen und Mathematikers bei, dessen philosophisches Werk seit dem Prioritätsstreit mit Newton zwei Jahrhunderte lang in England kaum zur Kenntnis genommen worden war.

Als er im Jahr 1900 auf einem Mathematikerkongress die (so genannten) logizistischen Ansätze des Italieners Giuseppe Peano kennenlernt, gelangt auch er zur Überzeugung, dass die Mathematik einer besseren logischen Grundlage bedarf.

Russell veröffentlicht The Principles of Mathematics (1903) und versucht – in Zusammenarbeit mit Alfred North Whitehead – in den drei Bänden der Principia Mathematica (1910 – 1913) ein Programm umzusetzen: Alle mathematischen Begriffsbildungen und Definitionen sollen auf logische zurückgeführt werden, und zur Herleitung mathematischer Sätze, die nicht Axiome sind, sollen nur logische Schlüsse verwendet werden. Mitten in der Arbeit entdeckt er, dass die von Georg Cantor wenige Jahre zuvor eingeführte Definition einer Menge (als Zusammenfassung von Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen) zu einer Antinomie (griechisch: Unvereinbarkeit) führt, die seitdem den Namen Russellsche Antinomie trägt: Eine Menge, die alle Mengen enthält, die sich selbst nicht als Element enthalten, ist ein Widerspruch in sich. (Später gibt Russell selbst folgende »populäre» Einkleidung des Problems an: Man kann einen Barbier definieren als einen, der alle diejenigen rasiert, und nur diejenigen, die sich nicht selbst rasieren. Die Frage ist: Rasiert der Barbier sich selbst?)

Das Bilden einer Menge muss also gewissen Beschränkungen unterworfen werden; Russell entwickelt dazu eine »Typentheorie«, in der es Mengen verschiedenen Typs gibt; dieser Ansatz löst das Problem, setzt sich jedoch nicht durch. Der deutsche Mathematiker und Logiker Gottlob Frege, auf dessen Arbeit Die Grundlagen der Arithmetik sich Russell zunächst ebenfalls stützt, fällt nach Russells Entdeckung in tiefe Depression; im Nachwort zur zweiten Auflage seines Werks räumt dieser ein, dass durch Russell die »Grundlagen seines Baues« erschüttert wurden.

Von 1910 an wird Russell als Dozent für Mathematik und Logik am Trinity College tätig; die Universität entzieht ihm jedoch diese Stelle, als er sich – entsetzt über die allgemeine Kriegsbegeisterung und Barbarei des Ersten Weltkriegs – öffentlich für Kriegsdienstverweigerung einsetzt; 1918 wird er wegen seiner Aktivitäten zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt. Während der Haft verfasst er mehrere Bücher, darunter Roads to Freedom: Socialism, Anarchism, and Syndicalism. Eine anfängliche Sympathie für das sozialistische Experiment in der Sowjetunion endet, nachdem er 1920 die Sowjetunion besucht und mit Lenin Gespräche geführt hat (»ein Asyl für gemeingefährliche Geisteskranke, wo die Wärter die schlimmsten sind«).

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutet für Russell eine »Abkehr von Pythagoras«, auch wenn er weiterhin Schriften zur Philosophie verfasst, wie die allgemein verständliche Introduction to mathematical Philosophy (1919) und später die kritische Bilanz A History of Western Philosophy (1946).

1920 übernimmt er eine Gastprofessur in Peking und beschäftigt sich eingehend mit der chinesischen Kultur. Nach der Rückkehr bestreitet er seinen Lebensunterhalt als Autor zahlreicher Bücher zu unterschiedlichen Themen, darunter auch populärwissenschaftliche Bücher über Atomphysik und Relativitätstheorie, aber auch über Politik und Erziehung. Zusammen mit seiner zweiten Frau gründet er nach vergeblicher Suche einer geeigneten Schule für seine beiden Kinder die antiautoritäre Privatschule in Beacon Hill (von der er später einräumt, dass seine Vorstellungen nicht realisiert wurden).

Aufsehen erregen seine Bücher Why I Am Not a Christian (1927), in dem sich der Atheist Russell kritisch mit der Religion auseinandersetzt, insbesondere mit dem Christentum, sowie Marriage and Morals (1929), ein Plädoyer für eine freie Sexualmoral.

Im Jahr 1936 heiratet er zum dritten Mal und übernimmt Lehraufträge an den Universitäten in Chicago und Los Angeles. Seine Berufung an die Universität von New York kommt nach dem Protest fundamentalistischer Christen nicht zustande; diese sehen die Moral der Studenten gefährdet, weil er Ehebruch und Homosexualität befürworte. 1950 wird ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen, »als eine Anerkennung für seine vielseitige und bedeutungsvolle Verfasserschaft, worin er als Vorkämpfer der Humanität und Gedankenfreiheit hervortritt«.

Während des Zweiten Weltkriegs gibt er seinen unbedingten Pazifismus auf, drängt sogar auf einen Präventivschlag gegen die Sowjetunion. Nachdem auch diese über Atom- und Wasserstoffwaffen verfügt, engagiert er sich für den Erhalt des Weltfriedens – ein dritter Weltkrieg würde die Existenz der Menschheit bedrohen. Zusammen mit anderen berühmten Persönlichkeiten verfasst er 1955 ein Manifest zu den Folgen des Einsatzes von Nuklearwaffen und begründet die seitdem regelmäßig tagende Pugwash-Konferenz zu Abrüstungsfragen und zur Verantwortung der Naturwissenschaftler (die Einrichtung erhielt 1995 den Friedens-Nobelpreis).

1957 beginnt er die Campaign for Nuclear Disarmament und wird deren erster Präsident; 1961 wird der 89-Jährige wegen Teilnahme an einem Sitzstreik in London zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt (»inciting the public to acts of civil disobedience«), die nach einer Woche im Gefängnis-Krankenhaus aus Gesundheitsgründen erlassen wird. In der Kuba-Krise 1962 wendet er sich mit eindringlichen persönlichen Botschaften an Chruschtschow und Kennedy, um den drohenden Atomkrieg zu verhindern. 1963 gründet er die Bertrand Russell Peace Foundation, die sich für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte einsetzt. 1966 ruft diese zum Vietnam War Crimes Tribunal auf, die mit einem »Schuldspruch« der USA endet (Verbrechen gegen den Frieden, Bruch des internationalen Rechts und der Charta der Vereinten Nationen).

In seinen Lebenserinnerungen blickt er auf ein ereignisreiches Leben zurück – vielfach wurden ihm Ehrungen zuteil, selten verhielt er sich konform, aber stets getreu zu seinen zehn Geboten, wie er sie im Jahr 1951 formulierte, zum Beispiel: Fühle dich keiner Sache völlig gewiss. – Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Fall auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansichten sind. – Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heutige Meinung war einmal exzentrisch. – Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung; denn wenn die Intelligenz so viel wert ist, wie sie dir wert sein sollte, dann liegt im Widerspruch eine tiefere Zustimmung. – Neide nicht denen das Glück, die in einem Narrenparadies leben; denn nur ein Narr kann das für ein Glück halten.

Bertrand Russell (1872 – 1970)

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