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Der Mathematische Monatskalender: Nasir al-Din al-Tusi (1201–1274): Der Wurzelzieher

Als Hofastronom eines Mongolenfürsten gründete Nasir al-Din al-Tusi ein Observatorium, das Gelehrte aus dem gesamten arabischen Raum anzog. Er selbst vollbrachte vor allem auf dem Gebiet der numerischen Lösung von Gleichungen und der Berechnung von Wurzeln große Leistungen.
Antikes Astrolabium

Nasir al-Din al-Tusi wird in Tus geboren, einer Stadt im Nordosten des heutigen Iran. Sein Vater ist Rechtsgelehrter an einer schiitischen Imam-Schule. Seine eigene Ausbildung wird daher stark von der Religion geprägt; aber sein Onkel und andere Lehrer tragen dazu bei, dass er auch in Mathematik, Physik und Philosophie unterrichtet wird. Im Alter von 13 Jahren wechselt der exzellente Schüler an eine angesehene Schule in Nishapur, etwa 75 Kilometer westlich von Tus gelegen. Bald schon spricht man in der Region über den jungen Gelehrten – da erreicht die erste Welle mongolischer Reiterheere das Land. Die Soldaten des Dschingis Khan erobern im Jahr 1220 auch Tus und richten große Zerstörungen an. Der Herrscher selbst kehrt wieder nach Osten zurück (er stirbt 1227), während seine Söhne und Generale den Zug nach Westen fortsetzen. Erst 1241, nach der siegreichen Schlacht bei Liegnitz, kehren sie um, als auch der Nachfolger Dschingis Khans stirbt.

Al Tusi nutzt rechtzeitig die Chance zu fliehen. Er findet Unterschlupf in der Burg Alamut, wohin sich die Assassinen, eine extreme schiitische Sekte, zurückgezogen haben und ihre Festung zunächst erfolgreich gegen die Angriffe der Mongolen verteidigen können. Dort, in der Ruhe der Burg, beschäftigt er sich mit Fragen der Philosophie, Religion, Mathematik und Astronomie und verfasst zahlreiche Schriften. Sein Interesse für die Astronomie ist vielleicht durch das Erscheinen eines Kometen um das Jahr 1225 verstärkt worden – es ist derselbe, den Halley 1682 erforscht.

Im Jahr 1256 greift Hulegu, einer der Enkel Dschingis Khans, erneut die Festung Alamut an. Es heißt, dass al-Tusi den Angreifern dabei hilft, die Burg zu erobern – vermutlich, weil er zuletzt gegen seinen Willen dort festgehalten wird. Die Eroberer zerstören die Festung; al-Tusi wird von Hulegu als wissenschaftlicher Berater, vor allem aber als Hofastrologe in den Begleittross seines Heeres aufgenommen.

Nach der Eroberung und Zerstörung Bagdads unterbreitet al-Tusi dem mongolischen Herrscher Vorschläge zum Bau eines Observatoriums. Diese werden dann nach seinen Vorstellungen in der Nähe der neuen Hauptstadt Maragheh im Gebiet des heutigen Aserbaidschan errichtet. Das neue Observatorium wird zum wissenschaftlichen Zentrum des mongolischen Reichs; persische Astronomen arbeiten zusammen mit chinesischen, armenischen und georgischen Wissenschaftlern und erforschen den Himmel, insbesondere die Bewegung der Planeten; auch entsteht eine große Bibliothek. 1271 veröffentlicht al-Tusi ein Buch mit Tabellen, nach denen man die zukünftige Position der Planeten berechnen kann. Es enthält auch Angaben über die Präzession der Äquinoktialpunkte, für die er einen Wert von 51 Bogensekunden angibt. (Zum Zeitpunkt der Tag- und Nachtgleiche im Frühling und im Herbst (= Äquinoktium) überschreitet die Sonne – geozentrisch gesehen – die Äquatorebene; bedingt durch die Gravitationskräfte von Sonne, Mond und Planeten verschieben sich diese Punkte in jedem Jahr – nach unserer heutigen Kenntnis – um etwa 50,3 Bogensekunden in westlicher Richtung).

Er baut leistungsfähigere astronomische Geräte und setzt sich intensiv mit dem »Almagest« auseinander, dem bedeutendsten Werk der antiken Astronomie, verfasst vom griechischen Mathematiker und Astronomen Claudius Ptolemäus in der Mitte des 2. Jahrhunderts. Dieses Werk enthält neben der Beschreibung des »ptolemäischen Weltbilds« auch systematische Abhandlungen, wie man aus gemessenen Winkeln und Strecken Entfernungen bestimmen kann. Ptolemäus verwendet hierzu sogenannte Sehnentafeln; das sind Tabellen für die Umrechnung von Sehnenlängen in Zentriwinkel (und umgekehrt).

al-Tusi ersetzt die Sehnentafeln durch Tabellen mit den Werten der Sinus-Funktion gemäß der Formel: \(s=2r\cdot sin \left( \frac{\alpha}{2}\right)\).

al-Tusi entdeckt, dass ein Punkt auf der Peripherie eines Kreises eine geradlinige, oszillierende Bewegung ausführt, wenn man den Kreis im Innern eines Kreises mit doppelt so großen Radius abrollt. Er kann hiermit das ptolemäische System verbessern, stellt es aber nicht grundsätzlich in Frage. Seine Idee wird später von Nikolaus Kopernikus (1473–1543) in das 1543 veröffentlichte Werk »De Revolutionibus Orbium Coelestium« (Von den Umdrehungen der Himmelskörper ) übernommen.

al-Tusis Buch »Abhandlung über Vierecke« gilt als das erste Buch der Trigonometrie als mathematischem Gebiet. Es enthält unter anderem einen Überblick über die Berechnung von Dreiecken sowie die Herleitung eines Satzes, den wir als Sinussatz bezeichnen (auch für stumpfwinklige Dreiecke): \(\frac{a}{sin(\alpha)} = \frac{b}{sin(\beta)} = \frac{c}{sin(\gamma)}\).

Darüber hinaus gibt er einen Überblick über Berechnungen in sphärischen Dreiecken.

In einer »Sammlung zur Arithmetik« aus dem Jahr 1265 erläutert al-Tusi die Berechnung der \(n\)-ten Wurzel aus einer ganzen Zahl. Dabei verwendet er den Binomischen Lehrsatz und berechnet die benötigten Binomialkoeffizienten iterativ. Am Beispiel der sechsten Wurzel aus \(244\ 140\ 626\) erläutert er: Wegen \(2^6 < 244 < 3^6\) muss bei der gesuchten Zahl vom Typ \((10x +y)^6\) die Variable \(x\) den Wert \(2\) haben. Daher gilt weiter:

\((10x +y)^6 – (10x)^6 = 244\ 140\ 626 – 64\ 000\ 000 = 180\ 140\ 626\)

\(= y^6 + 6\cdot10\cdot2\cdot y^5 + 15\cdot100\cdot4\cdot y^4 + 20\cdot 1000\cdot8\cdot y^3\) \( + 15\cdot10\ 000\cdot16\cdot y^2 + 6\cdot100\ 000\cdot32\cdot y\)

\(= (y^5 + 120y^4 +6000y^3 + 160\ 000y^2 +2\ 400\ 000\cdot y + 19\ 200\ 000) \cdot y\)

Durch Probieren findet er für \(y = 5: (10x +y)^6 = 244\ 140\ 625\), also \( \sqrt[6]{244\ 140\ 626} \approx 25\); für die Berechnungen verwendet er eine Tabelle, die dem Horner-Schema entspricht.

al-Tusi gibt eine neue Übersetzung der Elemente des Euklid heraus und beschäftigt sich – wie viele seiner Vorgänger – mit dem Parallelenaxiom. In diesem Zusammenhang beweist er die Aussage: Eine Gerade, die eine der Dreiecksseiten schneidet, aber nicht durch einen Eckpunkt verläuft, muss auch eine der anderen Dreiecksseiten schneiden.

Er verfasst zahlreiche Kommentare zu Texten griechischer Mathematiker und Philosophen, zum Beispiel zur Schrift des Archimedes über Kugel und Zylinder. Dabei vertritt er – im Gegensatz zu einigen Vorgängern – die Ansicht, dass nicht nur Strecken, sondern auch Kurven eine Länge haben.

al-Tusi beschäftigt sich nicht nur mit astromischen und mathematischen Themen; er schreibt Gedichte und theologische Abhandlungen, erstellt eine Übersicht über Mineralien und formuliert den Grundsatz, dass Materie verändert werden kann, aber nicht »verschwindet«. Er untersucht Fragen der Vererbung und der Anpassung an die Umwelt bei Pflanzen und Tieren; er setzt sich mit den Abhandlungen Avicennas (Ibn Sina, 980 – 1037) zur Medizin und zur Logik auseinander. Eine der Abhandlungen zur Logik beschäftigt sich mit der »Disjunktion«, dem logischen »oder« im Sinne des »entweder – oder« beziehungsweise des einschließenden »oder« sowie dem Zusammenhang mit »Wenn-dann-Aussagen«.

Im Jahr 1274 stirbt der Universalgelehrte al-Tusi auf einer Reise nach Bagdad.

Nasir al-Din al-Tusi (1201–1274)

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