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Der Mathematische Monatskalender: Bernhard Riemann (1826−1866)

Obwohl Bernhard Riemannn schon mit 39 Jahren starb, hat er die Entwicklung der modernen Mathematik erheblich beeinflusst.
Bernhard Riemann

Obwohl Georg Friedrich Bernhard Riemann bereits im Alter von 39 Jahren starb, beeinflusste er die Entwicklung der modernen Mathematik in erheblichem Maße. Es gibt nicht wenige Wissenschaftshistoriker, die ihn zu den bedeutendsten Mathematikern aller Zeiten zählen. Gleichwohl sah sich bisher keine der deutschen Postverwaltungen veranlasst, an ihn durch eine Briefmarke zu erinnern.

Bernhard Riemann wird als zweites von sechs Kindern in Breselenz (nahe Dannenberg / Elbe) geboren; sein Vater übernimmt etwas später eine Stelle als Pfarrer in Quickborn. Bis zum Alter von 13 Jahren wird Bernhard vor allem von ihm unterrichtet; dann darf er zu seiner Großmutter nach Hannover ziehen, um dort ein Gymnasium zu besuchen. Der schüchterne Junge hat oft Heimweh nach seinen von ihm sehr geliebten Eltern und Geschwistern, die er jetzt nur in den Ferien sehen kann.

Nach dem Tod der Großmutter wechselt der nunmehr 15-Jährige an das Johanneum in Lüneburg, wo er die letzten vier Jahre seiner Schulzeit verbringt. Seine mathematische Begabung wird schnell sichtbar und veranlasst den Schuldirektor, ihm die Werke von Euler sowie Legendres Théorie des Nombres auszuleihen. Bei der Rückgabe der Bücher bemerkt der Schulleiter mit Erstaunen, dass Bernhard Riemann offensichtlich die Texte nicht nur verstanden hat, sondern die Inhalte auch wiedergeben kann.

So oft es geht, besucht er seine Familie; jedoch bereitet es dem kränklichen Jungen zunehmend Schwierigkeiten, den Weg von etwa 90 Kilometer (zu Fuß) zurückzulegen.

Ostern 1846 beginnt Riemann – auf Wunsch des Vaters – ein Studium der Philosophie und Theologie an der Universität zu Göttingen; neben den Vorlesungen seiner Fächer besucht er aber auch Vorlesungen in Mathematik und Physik, im darauf folgenden Semester bei Gauß eine Vorlesung über die Methode der kleinsten Quadrate. Auf sein inständiges Bitten hin willigt der Vater ein, dass sich Bernhard nur noch dem Studium der Fächer Mathematik und Physik widmen darf.

Bernhard Riemann bemerkt, dass die Vorlesungsangebote in Göttingen ihm nichts Neues mehr bieten. Trotz der finanziellen Knappheit seiner Eltern erlauben sie es ihm, nach Berlin zu wechseln. Die Mathematik- und Physik-Vorlesungen von Carl Gustav Jacobi, Gustav Lejeune Dirichlet, Jakob Steiner und Gotthold Eisenstein versetzen ihn in die Lage, mit eigenen Forschungsarbeiten zu beginnen.

Nach Göttingen zurückgekehrt, nimmt er eine Stelle als Assistent des Experimental-Physikers Wilhelm Weber an. Gleichzeitig arbeitet er an seiner Dissertation Grundlagen für eine allgemeine Theorie der Funktionen einer veränderlichen komplexen Größe, die von Gauß betreut wird.

Ausgehend von den Vorarbeiten Cauchys beschäftigt sich Riemann mit der Theorie komplexer Variablen. Er führt die Definition ein: Eine Funktion \(w\) mit \(w(z) = u(z) + i \cdot v(z)\) ist an der Stelle \(z = x + i \cdot y\) differenzierbar, wenn die (heute so genannten) Cauchy-Riemann'schen Differenzialgleichungen \(\frac{\partial u}{\partial x} = \frac{\partial v}{\partial y}\) und \(\frac{\partial v}{\partial x} = – \frac{\partial u}{\partial y} \) erfüllt sind.

Auch löst er ein Problem, das bei komplexen Funktionen auftreten kann: Geht man zum Beispiel bei der Logarithmusfunktion von einem Punkt der komplexen Zahlenebene aus auf verschiedenen Wegen zu diesem Punkt zurück, dann kommt es vor, dass man zu Funktionswerten auf verschiedenen »Blättern« gelangt. Riemann löst diese Mehrdeutigkeit, indem er so viele komplexe Zahlenebenen wie benötigt übereinanderlegt und längs geeigneter Schnitte »zusammenklebt«. Die Abbildung unten zeigt die (heute so genannte) Riemann'sche Fläche der komplexen Logarithmusfunktion.

Für die anschließende Arbeit an der Habilitationsschrift Über die Darstellbarkeit einer Funktion durch eine trigonometrische Reihe benötigt er mehr als zwei Jahre – dies hat mit der zeitraubenden Mitarbeit im neu gegründeten mathematisch-physikalischen Seminar zu tun, auch mit seiner schwachen Gesundheit, die ihn immer wieder ans Bett fesselt; nicht zuletzt aber hindert ihn seine fast ängstliche Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit, die Schrift fertigzustellen.

Während Vorgänger sich mit der Frage auseinandergesetzt hatten, welche Eigenschaften erfüllt sein müssen, damit man eine Funktion durch eine Fourier-Reihe darstellen kann, geht er von der umgekehrten Frage aus, nämlich, welche Eigenschaften sich für eine Funktion ergeben, wenn sie durch eine trigonometrische Reihe dargestellt werden kann.

Im Rahmen der Arbeit beschäftigt er sich mit der Eigenschaft der Integrierbarkeit von Funktionen: Ausgehend von einer Zerlegung des Intervalls \([ a ; b ]\) in (nicht notwendig gleich lange) Teilintervalle und in den Teilintervallen\( [ x_{i-1} ; x_i ] \)liegenden Zwischenstellen \(t_i\) betrachtet er (Riemann-) Summen der Form \(\sum_{i = 1}^{n} f(t_i)\cdot(x_i – x_{i-1})\), die den (zu der Zerlegung und den Zwischenstellen gehörenden) Flächeninhalt der Treppenfigur angeben. Er bezeichnet eine Funktion \(f\) als integrabel über dem Intervall \([ a ; b ]\), wenn sich die Summen bezüglich beliebiger Zerlegungen und unabhängig von den gewählten Zwischenstellen einer festen Zahl nähern, die dann als (Riemann-) Integral von \(f\) über \([ a ; b ]\) bezeichnet wird.

Für die öffentliche Probevorlesung muss Riemann der Fakultät drei Vorschläge unterbreiten. Parallel zur Habilitationsschrift hat er an einem Beitrag über Elektrizität, Galvanismus, Licht und Schwere gearbeitet, der sich hierfür eignen würde; auch das zweite von ihm vorgeschlagene Thema hat mit physikalischen Fragen zu tun.

Gauß jedoch wünscht sich das dritte Thema Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen, weil er begierig ist zu erfahren, zu welchen Einsichten ein so junger Mensch wie Riemann gekommen sein könnte. Riemann hat den Ehrgeiz, einen Vortrag zu halten, der auch für Nicht-Mathematiker verständlich ist, aber vermutlich ist Gauß der einzige, der seinen Ausführungen wirklich folgen kann. Dieser ist im höchsten Maße beeindruckt und lobt – was selten bei ihm vorkommt – die gedankliche Tiefe der Riemann'schen Überlegungen. Erst 60 Jahre später wird deutlich, welche Tragweite die Ansätze haben, als Einstein sich in der Allgemeinen Relativitätstheorie auf Riemann bezieht.

Der Vortrag setzt sich mit der mathematischen Möglichkeit der Existenz nicht-euklidischer Geometrien auseinander; ob sie tatsächlich existieren, ist von der Physik zu klären. Riemann definiert den Raum als \(n\)-dimensionale Mannigfaltigkeit mit einer Metrik, durch die Abstände von Punkten bestimmt werden können. Dabei müssen die »kürzesten« Verbindungsstrecken dieser Punkte nicht notwendig Geraden sein, sondern können auf gekrümmten Kurven liegen (Geodäten), wobei die Krümmung von der Lage der Punkte im Raum abhängen kann. Winkelsummen in Dreiecken können 180° betragen, aber auch kleiner oder größer als 180° sein.

Nachdem ihm nun endlich die venia legendi erteilt ist, kann er vom Wintersemester 1854/55 an Vorlesungen als Privatdozent anbieten. Es bereitet ihm anfangs große Schwierigkeiten, sich auf das Lerntempo seiner Studenten einzustellen, aber zunehmend gelingt es ihm, an deren Reaktionen abzulesen, ob ein Sachverhalt noch einmal mit anderen Worten erläutert und ob eine Beweisführung vertieft werden muss.

Nach dem Tod von Gauß wird Dirichlet zum Nachfolger berufen; vergeblich bemüht er sich darum, dass der von ihm hoch geschätzte Riemann zum außerordentlichen Professor ernannt wird. Immerhin erreicht er, dass dieser einen festen Betrag von jährlich 200 Talern für seine Vorlesungstätigkeit erhält. Dies sichert ihm einen bescheidenen Lebensunterhalt, denn ansonsten hängen die Einkünfte der Dozenten von der Anzahl der Studenten ab – und das waren nicht gerade viele: Zu Riemanns erster Vorlesung melden sich acht Studenten, und dies gilt als »viel«.

Unermüdlich arbeitet er an Veröffentlichungen, die in Crelle's Journal sowie bei der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften gedruckt wurden (letztere hatten in den zurückliegenden 50 Jahren nur Beiträge von Gauß veröffentlicht). Riemann entwickelt seine Ideen in großen Schritten immer weiter; bei einer Abhandlung über elliptische Integrale geschieht es, dass Weierstraß einen eigenen Beitrag zurückzieht, weil er erkennen muss, dass Riemann schon erheblich weiter vorangeschritten ist.

Endlich erfolgt Ende 1857 auch seine Ernennung zum außerordentlichen Professor, was mit einer Erhöhung der jährlichen Zahlung auf 300 Taler verbunden ist; allerdings muss er zur gleichen Zeit seine drei nicht verheirateten Schwestern in sein Haus aufnehmen, die zuvor noch bei seinem Bruder gelebt hatten, welcher nun verstorben ist.

Als Dirichlet im Mai 1859 stirbt, wird Riemann zu dessen Nachfolger berufen und zum Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften gewählt. Die Berliner Akademie der Wissenschaften nimmt ihn als korrespondierendes Mitglied auf; aus Anlass der Ernennung verfasst er den Beitrag Über die Anzahl der Primzahlen unter einer bestimmten Größe. Hierin verbessert er die von Gauß und Legendre gefundene Abschätzung, dass die Primzahl-Funktion \(\pi(x)\) asymptotisch gleich ist zu \(\frac{x}{\text{ln}(x)}\) und zu \( \text{Li}(x) = \int_2^x \frac{1}{\text{ln}(t)}dt.\) Ausgehend von der von Euler eingeführten Zeta-Funktion \(\zeta(s)=\sum_{n=1}^\infty = \prod_p \frac{1}{1-\frac{1}{p^s}} \) gibt er eine Funktion an, die für beliebige komplexe Zahlen \(s\) definiert ist und für reelle Zahlen \(s > 1\) mit der oben angegebenen Euler'schen Funktion übereinstimmt (so genannte analytische Fortsetzung).

Riemann äußert eher beiläufig, dass alle Nullstellen der Funktion im kritischen Streifen \(0 \leq \text{Re}(s) \leq 1\) vermutlich auf der Geraden mit \(\text{Re}(s) = \frac{1}{2}\) liegen: Es ist sehr wahrscheinlich, dass alle Wurzeln reell sind. Hiervon wäre allerdings ein strenger Beweis zu wünschen; ich habe indess die Aufsuchung desselben nach einigen flüchtigen vergeblichen Versuchen vorläufig bei Seite gelassen ....

Für diese Riemann'sche Vermutung, eines der Millennium-Probleme, wurde eine Million Dollar ausgelobt; sie konnte bis heute weder bewiesen noch widerlegt werden. Als David Hilbert gefragt wurde, wonach er sich als Erstes erkundigen würde, wenn er 100 Jahre nach seinem Tod noch einmal mit Mathematikern zusammentreffen könnte, soll er geantwortet haben: Danach, ob die Riemann'sche Vermutung bewiesen ist.

Riemann heiratet im Juni 1862 Elise Koch, eine Freundin seiner Schwestern; jedoch wird das persönliche Glück durch seine Erkrankung beeinträchtigt; er hofft, durch eine Reise in wärmere Regionen die Tuberkulose zu heilen. Sein mehrmonatiger Aufenthalt in Italien verbessert seine angeschlagene gesundheitliche Verfassung; aber bereits auf dem Rückweg erkrankt er erneut so sehr, dass ein zweiter, längerer Aufenthalt im Süden erforderlich wird.

In Pisa, wo dem glücklichen Paar eine Tochter geboren wird, lehnt er das Angebot einer Professur für Mathematik ab, weil er sich der Universität in Göttingen verpflichtet fühlt. Vorübergehend kehrt er Ende 1865 nach Göttingen zurück. Er ist jedoch immer noch so geschwächt, dass er mehrfach Verabredungen mit Dedekind absagen muss, mit dem er eigentlich besprechen will, wie mit seinen unvollendeten Arbeiten verfahren werden kann. Ein letztes Mal bricht er am 15. Juni 1866 nach Italien auf, erreicht am 28. Juni sein Reiseziel in Selasca (bei Verbania) am Lago Maggiore, wo er noch einige Tage die Arbeit an Abhandlungen fortsetzen kann. Am 20. Juli ist sein kurzes Leben zu Ende.

Wenige Tage vor seinem Tod ist er noch von der französischen Académie des Sciences und der britischen Royal Society zum korrespondierenden Mitglied gewählt worden.

Richard Dedekind und Heinrich Weber übernehmen die Herausgabe der nicht veröffentlichten Schriften und Materialien; Felix Klein macht die Funktionentheorie Riemanns durch Vorlesungen in Leipzig und Göttingen bekannt.

Bernhard Riemann (1826−1866)

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