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Der Mathematische Monatskalender: Bernard Bolzano (1781–1848) : Glaube und Mathematik

Wenige Tage nach seiner Promotion über die Frage, was einen korrekten mathematischen Beweis ausmacht, wurde er zum Priester geweiht.
Eine Person schreibt Gleichungen auf eine Glasscheibe. Interessant daran ist, dass sie anscheinend die ganze Zeit in Spiegelschrift schreibt.

Bernard Placidus Johann Nepomuk Bolzano wurde als viertes von zwölf Kindern in Prag geboren; nur er und ein Bruder erreichten das Erwachsenenalter. Sein Vater war ein aus Norditalien stammender Kunsthändler (Bolzano ist der italienische Name von Bozen), seine Mutter Tochter eines Kaufmanns aus Prag. Die Eltern erzogen ihn in tiefer Religiosität; er besuchte ein Gymnasium in kirchlicher Trägerschaft, bevor er mit 15 Jahren ein Studium der Philosophie, Mathematik und Physik an der Prager Karls-Universität aufnahm, mit 19 ein Theologiestudium. Wenige Tage nach seiner Promotion über die Frage, was einen korrekten mathematischen Beweis ausmacht, wurde er zum Priester geweiht.

Prag war damals die Hauptstadt des Königreichs Böhmen, Teil des Habsburger Reichs. Zwar hatte Kaiser Joseph II seinen Untertanen im Jahr 1781 Religionsfreiheit gewährt, die Freiheitsideen der Französischen Revolution forderten jedoch mehr: generelle Gedankenfreiheit und Freiheit für die Nationen. Zur Abwehr der Liberalisierungsbestrebungen verfolgte Kaiser Franz I einen konservativen Kurs, der 1804 durch Einrichtung eines Lehrstuhls für Religionsphilosophie gestützt werden sollte.

Bolzano bewarb sich auf diesen Lehrstuhl, gleichzeitig auch auf einen für Elementarmathematik, gleichermaßen qualifiziert für beide. Schnell merkte die Obrigkeit, dass man ihn für den »falschen« Lehrstuhl berufen hatte: Als Führer der »Böhmischen Aufklärung« verbreitete er in seinen Vorlesungen pazifistisches und sozialistisches Gedankengut. 1819 wurde er wegen der Verbreitung von »Irrlehren« seines Amtes enthoben und wegen Häresie angeklagt. Unter Hausarrest stehend, beschäftigte er sich weiter mit philosophischen und mathematischen Fragen. 1837 erschienen zwei seiner wichtigsten Werke: »Von dem besten Staate« und »Wissenschaftslehre«; aber erst 1840 wurde ihm wieder erlaubt, Schriften nicht-theologischen Inhalts in der Königlich Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften zu veröffentlichen.

Das Werk »Von dem besten Staate« war eine sozialistische Utopie, in der er sich für ein sehr weit gehendes Gleichheitsprinzip aussprach und Eigentum kritisierte, das nicht durch Arbeit erworben war. In seiner »Wissenschaftslehre« setzte er sich mit der Frage des Urteilens und Fürwahrhaltens auseinander und beschrieb die Entwicklung der Logik als Wissenschaft – von Aristoteles bis Kant. Im Gegensatz zu Kant und Hegel vertrat er die Ansicht, dass Zahlen, Ideen und »Sätze-an-sich« auch unabhängig von den Personen existieren, die diese »denken«.

Die Werke Bolzanos fanden (unter anderem wegen des Publikationsverbots) zu seinen Lebzeiten nicht die Anerkennung, die sie verdient gehabt hätten; mit vielen Überlegungen war er seiner Zeit weit voraus. So kam es, dass etliche seiner Ideen und Gedankengänge erst Jahrzehnte später wiederentdeckt wurden. Bereits in seinen frühen mathematischen Schriften bemühte sich Bolzano um die Präzisierung der Beweise und der darin enthaltenen Argumentationen.

1810 erschienen seine »Beyträge zu einer begründeteren Darstellung der Mathematik«. 1816 folgte »Der binomische Lehrsatz, als Folgerung aus ihm der polynomische, und die Reihen, die zur Berechnung der Logarithmen und Exponentialgrößen dienen, genauer als bisher erwiesen«. Bolzano kritisierte in diesem Beitrag die geniale, aber nicht genügend exakte Vorgehensweise von Leonhard Euler (1707–1783) und Joseph Louis Lagrange (1736–1813). Mit dem Binomischen Lehrsatz ist hier die Binomische Reihe gemeint, die man nicht nur für natürliche Exponenten, sondern auch für ganze, rationale, ja sogar für beliebige reelle Exponenten n definieren kann:

\((1+x)^n = \binom{n}{0}+\binom{n}{1}\cdot x + \binom{n}{2} \cdot x^2 + \binom{n}{3} \cdot x^3 +...\) \(=1+n \cdot x + n \cdot \frac{n-1}{2} \cdot x^2 + n \cdot \frac{n-1}{2} \cdot \frac {n-2}{3} \cdot x^3 +...\) Bolzano schreibt, dass der Unterschied zwischen \((1+x)^n\) und
\(1+n \cdot x + n \cdot \frac{n-1}{2} \cdot x^2 + n \cdot \frac{n-1}{2} \cdot \frac {n-2}{3} \cdot x^3 +...\) \(+n \cdot \frac{n-1}{2} \cdot ...\frac{n-r+1}{r} \cdot x^r\) »kleiner als jede gegebene Größe gemacht werden kann, wenn man die Menge der Glieder in der Reihe genug nimmt«, und, dass dies nur für \(|x| < 1\) sinnvoll ist.

1817 verfasste er die Abhandlung »Rein analytischer Beweis des Lehrsatzes, daß zwischen je zwei Werten, die ein entgegengesetztes Resultat gewähren, wenigstens eine reelle Wurzel der Gleichung liege«, heute bezeichnet als der

Nullstellensatz von Bolzano: Ist eine Funktion f in einem abgeschlossenen Intervall \([a ; b]\) stetig \((a, b \in \mathbb{R})\) und ist außerdem \(f(a) \cdot f(b) < 0\), dann liegt mindestens eine Nullstelle von f im Innern des Intervalls.

Eine wichtige Voraussetzung für den Beweis dieses Nullstellen-Satzes ist eine exakte Definition des Begriffs der Stetigkeit; für Bolzano bedeutet Stetigkeit in einem Intervall, »daß wenn \(x\) irgend ein solcher Werth [aus dem Intervall] ist, der Unterschied \(f(x+) – f(x)\) kleiner als jede gegebene Größe gemacht werden könne, wenn man \(\omega\) so klein, als man nur immer will, annehmen kann« – eine Formulierung, die sich inhaltlich nur wenig von der in Mathematik-Vorlesungen heute verwendeten unterscheidet.

Cauchysches Konvergenzkriterium:
Eine Folge \( (a_n)_{n \in \mathbb{N}}\) konvergiert genau dann, wenn zu jedem \(\varepsilon >0\) ein \( n_0 \in \mathbb{N}\) existiert, so dass für alle \(n, m\) mit \(n \leq n_0\) und \(m \leq n_0\) gilt: \(|a_n – a_m| < \varepsilon\)

Augustin Louis Cauchy (1789–1857) veröffentlichte diesen mathematischen Satz im Jahr 1821; bereits vier Jahre vorher hatte Bolzano in der oben genannten Schrift die gleiche notwendige und hinreichende Bedingung für die Konvergenz einer unendlichen Reihe (also einer Summenfolge) angegeben, ohne dass sie beachtet worden war: »Wenn eine Reihe von Größen \(F_1(x), F_2(x), F_3(x), ..., F_n(x), ..., F_n+r(x)\), von der Beschaffenheit ist, daß der Unterschied zwischen ihrem \(n\)-ten Glied \(F_n(x)\) und jedem späteren \(F_{n+r} (x)\), sey dieses jenem auch noch so weit entfernt, kleiner als jede vorgegebene Größe verbleibt, wenn man n groß genug angenommen hat: so gibt es jedesmahl eine gewisse beständige Größe, und zwar eine, der sich die Glieder dieser Reihe immer mehr nähern, und der sie so nahe kommen, als man nur will, wenn man die Reihe weit genug fortsetzt.«

Er schreibt, für ihn enthalte die Existenz eines Grenzwertes (von ihm »eine gewisse beständige Größe« genannt) »nichts Unmögliches«, da es »bey dieser Voraussetzung möglich wird, diese Größe genau, als man nur immer will, zu bestimmen«. Den Mathematikern jener Zeit war nicht bewusst, dass dies ist ein Zirkelschluss ist, da man vor der Definition des Grenzwerts erst überhaupt einmal definieren muss, was eine reelle Zahl ist.

Um 1860 formulierte Karl Weierstrass (1815–1897) einen Satz, von dem man ebenfalls erst viele Jahre danach bemerkte, dass Bolzano ihn bereits 1817 notiert hatte:

Satz von Bolzano-Weierstrass: Jede beschränkte unendliche Zahlenfolge hat mindestens einen Häufungswert.

Dabei nennt man eine reelle Zahl \(a\) Häufungswert einer Folge von reellen Zahlen, wenn in jeder noch so kleinen Umgebung von a unendlich viele Folgenglieder liegen.

Erst 1930 wurde entdeckt, dass es Bolzano (lange vor Weierstrass) gelungen war, eine Funktion zu konstruieren, die auf einem Intervall überall stetig, aber an keiner Stelle differenzierbar ist. Diese Funktion ist Grenzfunktion einer Folge von abschnittsweise definierten linearen Funktionen; die Abbildung links zeigt \(f_1, f_2, f_3\).

Auch in seiner letzten Schrift, den »Paradoxien des Unendlichen« (1847), findet man Überlegungen, die erst viele Jahre später Georg Cantor (1845-1918) aufgreift: »Ich behaupte nämlich: Zwei Mengen, die beide unendlich sind, können in einem solchen Verhältnisse zueinander stehen, daß es einerseits möglich ist, jedes der einen Menge gehörige Ding mit einem anderen zu einem Paare zu verbinden mit dem Erfolge, daß kein einziges Ding in beiden Mengen ohne Verbindung zu einem Paare bleibt, und auch kein einziges in zwei oder mehr Paaren vorkommt; und dabei ist es doch andererseits möglich, daß die eine dieser Mengen die andere als bloßen Theil in sich faßt, so daß die Vielheiten, welche sie vorstellen, wenn wir die Dinge derselben alle als gleich, d.h. als Einheiten betrachten, die mannigfachsten Verhältnisse zueinander haben.«

Beispiel: Die Abbildung \(x \to y = 2x\) ordnet jedem Punkt des Intervalls \([0 ; 1]\) umkehrbar eindeutig einen Punkt des Intervalls \([0 ; 2]\) zu; obwohl die eine Menge echte Teilmenge der anderen ist, sind beide Mengen »gleichmächtig«.

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