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Der Mathematische Monatskalender: Stefan Banach (1892–1945): Wechselvolles Schicksal

1910 entscheidet sich Stefan Banach gegen die Mathematik: Hier gebe es nichts mehr zu entdecken. Doch eine Begegnung und ihre Folgen lassen den in Krakau Geborenen seine Meinung revidieren: Er wird zum bedeutenden Mathematiker. Sein Leben steht dennoch unter keinem glücklichen Stern.
Banach Tarski Paradoxon

Stefan Banach wird als uneheliches Kind in Krakau (damals Österreich-Ungarn) geboren; seine Mutter verschwindet spurlos am Tag der Taufe des vier Tage alten Säuglings. Der Vater, dessen Vornamen er erhält, übergibt ihn an die Großmutter, und als diese krank wird, kommt er in eine Pflegefamilie, die sich sehr um den Jungen kümmert, unter anderem ihm bereits früh die Möglichkeit bietet, Französisch zu lernen. Nach Besuch der Grundschule wechselt er auf ein Gymnasium und lernt dort Witold Wilkosz kennen, der – wie Banach – später einmal eine Professur in Mathematik erhalten wird. Mathematik ist das einzige, was die beiden wirklich interessiert, aber als sie 1910 ihren Schulabschluss erreicht haben, entscheiden sie sich beide nicht für ein Studium dieses Fachs, weil es ihrer Meinung nach in der Mathematik nichts Neues mehr zu entdecken gibt. Banach will ein Ingenieurstudium beginnen, der Freund ein Studium orientalischer Sprachen.

Da der Vater jede weitere finanzielle Unterstützung versagt, gibt es für Banach keinen Grund mehr, in Krakau zu bleiben; er wechselt nach Lemberg (polnisch: Lwów; heute ukrainisch: Lwiw), um dort an der Technischen Hochschule zu studieren. Er kommt nur langsam voran, denn er muss viele Nachhilfestunden erteilen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. 1914 bricht er nach einer Zwischenprüfung und wegen des Ausbruchs des ersten Weltkriegs sein Studium ab. Als russische Truppen Lwów besetzen, kehrt er nach Krakau zurück. Wegen seines eingeschränkten Sehvermögens wird er nicht zum Wehrdienst eingezogen, muss sich aber am Bau von Straßen beteiligen, erteilt Mathematikunterricht und hört gelegentlich Mathematik-Vorlesungen, vermutlich auch bei Stanisław Zaremba.

In einem Park lernt er zufällig Hugo Dyonizy Steinhaus kennen; dieser arbeitet – nach der Promotion bei David Hilbert – an seiner Habilitation. Er berichtet Stefan Banach von einem mathematischen Problem, das ihn gerade sehr beschäftigt.

Wenige Tage später hat Banach eine Lösung für das Problem gefunden, und zusammen verfassen sie hierüber einen Beitrag für eine Fachzeitschrift, deren Herausgeber Zaremba ist. Wegen des Kriegs erscheint der Beitrag erst im Jahr 1918; in der Zwischenzeit aber schreibt Banach einen mathematischen Beitrag nach dem anderen. Nach Ende des Kriegs und Wiederentstehen eines selbstständigen polnischen Staates gründen Steinhaus und Zaremba die Krakauer Mathematische Gesellschaft (ab 1920 Polnische Mathematische Gesellschaft), deren Vorsitz Zaremba übernimmt. Banach erhält einen Lehrauftrag an der Technischen Universität in Lwów.

Obwohl er keinen Universitätsabschluss vorweisen kann, wird er nach Vorlage einer Arbeit mit dem Titel Sur les opérations dans les ensembles abstraits et leur application aux équations intégrales (Über Operationen in abstrakten Mengen und ihre Anwendung auf Integralgleichungen) promoviert. Diese Arbeit gilt heute als die »Geburtsstunde« eines neuen mathematischen Teilgebiets, der Funktionalanalysis. Ausgehend von Vektorräumen, deren Elemente Funktionen sind, untersucht Banach gemeinsame Eigenschaften von Räumen, in denen eine Norm \(\Vert \cdot \Vert\) definiert werden kann: Durch \(d(a,b)=\Vert{a–b}\Vert\) lässt sich berechnen, wie groß der Abstand zweier Elemente \(a, b\) ist.

Seine bahnbrechende Arbeit beschäftigt sich mit den Eigenschaften von vollständigen Räumen \(R\), das sind Räume, in denen Folgen in \(R\) auch einen Grenzwert in \(R\) haben. Bereits kurze Zeit danach werden Räume dieses Typs in der mathematischen Fachliteratur als Banach-Räume bezeichnet, und die von Banach in seiner Arbeit verwendeten Begriffe werden allgemein übernommen.

In kurzen zeitlichen Abständen folgen neue Beiträge Banachs zu den von ihm untersuchten abstrakten Räumen. Bereits 1922 erfolgt seine Habilitation und Ernennung zum außerordentlichem Professor. Nach einem akademischen Jahr in Paris setzt er seine Arbeit als Ordinarius in Lwów fort, gibt zusammen mit Steinhaus eine neue Zeitschrift heraus, die insbesondere der Weiterentwicklung der Funktionalanalysis gewidmet ist, und verfasst mit Erfolg Mathematik-Schulbücher. 1932 veröffentlicht er das Standardwerk zur Funktionalanalysis, die Théorie des Opérations linéaires.

Banachs Arbeitsweise ist ungewöhnlich; während andere Mathematiker die Stille eines Arbeitszimmers bevorzugen, hält er sich am liebsten in Cafés auf, wo er unbeirrt vom Lärm konzentriert arbeitet. Wenn sein Lieblingscafé, das Schottische Café, schließt, geht er oft noch in die durchgängig geöffnete Cafeteria des Bahnhofs.

1939 wird Banach zum Präsident der Polnischen Mathematischen Gesellschaft gewählt. Nach Beginn des zweiten Weltkriegs besetzen sowjetische Truppen die Stadt Lwów – gemäß der Vereinbarung des Molotow-Ribbentrop-Pakts. Da Banach während der 1930er Jahre oft in Moskau war und gute Beziehungen zu sowjetischen Mathematikern hat, darf er seine Arbeit fortsetzen, wird sogar zu einem der Dekane der Universität ernannt. Als dann 1941 deutsche Truppen Lwów besetzen, beginnt für ihn eine schwierige Zeit; nur mit Glück entgeht er dem Massenmord an polnischen Intellektuellen durch die SS. Nach der Befreiung Lwóws im Juli 1944 wird der Neubeginn der akademischen Arbeit an polnischen Hochschulen durch sowjetische Mathematiker unterstützt. Banach bleibt jedoch nur eine kurze Zeit zu arbeiten: Der von den Entbehrungen der deutschen Besatzungszeit geschwächte Körper hat keine Widerstandskraft mehr. Im August 1945 stirbt Stefan Banach an Lungenkrebs.

Zu den wichtigsten von Banach formulierten Sätzen gehört der (heute nach ihm benannte) Banachscher Fixpunktsatz: Wenn für eine Abbildung \(f\) eines metrischen Raums \(R\) in sich ein \(q \in [0,1[\) existiert, so dass für alle \(a, b\) gilt: \(d(f(a),f(a),f(b))\leq q\cdot d(a,b),\) dann hat \(f\) einen Fixpunkt, das heißt, es existiert ein \(x_{\text{fix}} \in R\) derart, dass \(f(x_{\text{fix}})=x_{\text{fix}}.\)

Eine wichtige Anwendung ist die Folgende: Ist \(f\) eine differenzierbare, reellwertige Funktion und gibt es eine Zahl \(q < 1,\) so dass für alle \(x \in ]a, b[\) gilt: \(f'(x) \leq q,\) dann sind die Voraussetzungen des Banachschen Fixpunktsatzes erfüllt. Denn nach dem Mittelwertsatz der Differenzialrechnung existiert ein \(c \in ]a, b[\) derart, dass gilt: \( f'( c) \cdot (b − a) = f(b) – f(a),\) und wenn \(f'(x) \leq q < 1\) für alle \(x \in [a, b] \) erfüllt ist, dann gilt dies insbesondere für die Zahl \(c.\) Durch die Gleichung \(x_{n+1} = f(x_n)\) ist eine rekursive Folge definiert, die gegen den Fixpunkt konvergiert, der ja gemäß dem Banachschen Fixpunktsatz existiert. Für die Abweichung des n-ten Glieds der rekursiv definierten Folge vom Grenzwert \(x_{\text{fix}}\) gilt übrigens die Abschätzung:

\[ |x_n – x_{\text{fix}}| \leq \frac{q^n}{1-q} \cdot |x_1-x_0| \]

Beispiele: Der Graph der Funktion \(f\) mit \(f(x) = \cos(x)\) besitzt einen Fixpunkt im Intervall [0, 1]: Hier gilt nämlich für die Ableitungsfunktion \(f'(x) = – \sin(x):\) \(|f'(x)| \leq |- \sin(1)|< 0,85.\)

Daher besitzt die durch \(x_{n+1} = \cos(x_n)\) definierte Folge einen Grenzwert, und zwar: \(x_{\text{fix}} = 0{,}7390…\)

Fixpunkt des Cosinus | Fixpunkt der Cosinus-Funtkion (schwarz) und Annährung an den Fixpunkt über die Ableitung (rot).

Für die Ableitungsfunktion von \(f(x) = \sin(x) + 0{,}5\) gilt im Intervall [0,5 , 1,5]: \(|f'(x)| \leq \cos(0{,}5) < 0{,}88.\) Daher besitzt die durch \(x_{n+1}= \sin(x_n) + 0{,}5\) definierte Folge einen Grenzwert, und zwar: \(x_{\text{fix}} = 1{,}4973….\)

Fixpunkt von Sinus + 1 | Fixpunkt von Sinus(x) + 1(schwarz) und Annäherung über die Ableitung (rot).

In der Zusammenarbeit mit anderen Mathematikern findet Banach weitere mathematische Sätze von überragender Bedeutung, wie zum Beispiel den Satz von Hahn-Banach, den Satz von Banach-Steinhaus und andere mehr.

Zusammen mit dem aus Warschau stammenden Mathematiker Alfred Tarski entdeckt er 1924 ein Paradoxon der Mengenlehre, das einer anschaulichen Volumenvorstellung widerspricht (Sur la décomposition des ensembles de points en parties respectivement congruentes). Gemäß der durch den französischen Mathematiker Henri Lebesgue zu Beginn des 20. Jahrhunderts erweiterten Definition der Integrierbarkeit lassen sich auch »komplizierte« Punktmengen »messen«. Banach und Tarski stellen fest, dass es möglich ist, eine Kugel so in staubwolken-ähnliche Punktmengen zu zerlegen, dass sie sich zu zwei Kugeln zusammenfügen lassen, welche jeweils die gleiche Größe haben wie die Ausgangskugel, das heißt, das Volumen der Kugel wird quasi verdoppelt. Als Steinhaus einmal nach seiner bedeutendsten Leistung gefragt wurde, sagte er: »Banach war meine größte wissenschaftliche Entdeckung.«

Stefan Banach (1892 – 1945)

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