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Ethnomathematik: Pfeil, Herz, Hand und Knochen

Die Azteken entwickelten eine Mathematik, die mit dem Untergang ihres Reiches in Vergessenheit geriet. Doch überlieferte Dokumente enthüllen allmählich ihre Rechenkünste.
Eigentumsverhältnisse im Reich der Azteken
Bis die Spanier in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Mittelamerika eroberten, herrschten die Azteken über weite Teile Zentralmexikos. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatten sie eine florierende Hochkultur zur Blüte gebracht. Die Ruinen ihrer Pyramiden zeugen bis heute von ihren enormen kulturellen Leistungen. Inwieweit half den Azteken dabei die Mathematik?

Eine solche Frage dürfte die spanischen Invasoren nicht interessiert haben. Im Gegenteil: Die Kultur der Unterworfenen unterdrückten die neuen Herrscher mit Gewalt; Aufzeichnungen und Dokumente wurden gezielt vernichtet. Dies erschwert die Rekonstruktion der mathematischen Fähigkeiten der Azteken.

Grundstücke zur Zeit der Azteken | Diese Karte aus dem Jahr 1540 zeigt Grundrisse und Eigentumsverhältnisse in einer Stadt nahe dem heutigen Texcoco (Mexiko).
Neue Einblicke liefern die Grundbesitzverzeichnisse, welche die Azteken mit geradezu preußischer Ordnung führten, um den Steuersatz der Eigentümer zu bestimmen. Diese Sorgfalt belegen zwei alte Schriften, die zwischen 1540 und 1544 – also während der spanischen Fremdherrschaft – angelegt worden waren. Die Kodizes von Santa Maria Asuncion und Vergara dokumentieren den Grundbesitz in zwei Bezirken der alten Stadt Tepetlaoztoc nahe dem heutigen Texcoco.

Arithmetik im Grundbuchamt

Die Schriftstücke enthalten jeweils zwei Verzeichnisse, in denen neben einer piktografischen Darstellung des Eigentümers die Grundrisse all seiner Ländereien aufgelistet sind. Im ersten Verzeichnis trugen die aztekischen Vermesser zudem an jeder Seite einer Parzelle die zugehörige Länge durch Markierungsstriche ab. Dabei legten sie stets in ihrer Basiseinheit tlalquahuitl Maß an, die etwa 2,5 Metern entspricht. Zudem ergänzten sie ihre Angaben mit Glyphen, deren Bedeutungen allerdings nicht überliefert sind.

Im zweiten Verzeichnis vermerkten die Azteken dagegen anstelle der Striche die Gesamtflächen der Grundstücke, die sie aus den Angaben zu den Seitenlängen ableiteten. Sämtlich Längen- wie Flächenmaße sind ganze Zahlen. Da es sich bei den Grundrissen aber teils um unregelmäßige Vielecke handelt, setzt diese Berechnung mathematische Fertigkeiten voraus, die über bloße Multiplikation und Addition hinausgehen.

Wie aber berechneten die Azteken die Grundflächen? Offensichtlich verwendeten sie nicht in jedem Fall die korrekten Methoden, sondern gaben sich häufig mit Näherungsformeln zufrieden.

Weil erklärende Aufzeichnungen mit hilfreichen Zwischenschritten fehlen, versuchten es Forscher um Barbara Williams von der Universität von Wisconsin in Janesville mit einer einfachen Methode: Ausprobieren. Basierend auf den im Kodex Vergara dokumentierten Angaben zur Seitenlänge der einzelnen Parzellen zogen sie verschiedene Algorithmen heran, um die Fläche der 367 Grundstücke mit viereckigem Grundriss zu berechnen. Stimmte ihr Ergebnis mit den alten Aufzeichnungen überein, werteten sie dies als Indiz dafür, dass die Azteken den gleichen Rechenweg gewählt haben.

Bestandsaufnahme | Gegenüberstellung der Verzeichnisse im Kodex von Santa Maria Asuncion: Die linke Abbildung zeigt neben einer piktographischen Darstellung des Grundstücksbesitzers durch Striche die Seitenlängen der jeweiligen Parzelle. Das rechte Dokumente erfasst dagegen für den gleichen Eigentümer die aus den Grundseiten berechnete Gesamtfläche des jeweiligen Grundstücks.
In fast einem Drittel aller Fälle bildeten die Grundstücke ein Rechteck oder sogar ein Quadrat. Ihre Fläche ließ sich deshalb durch simple Multiplikation zweier benachbarter Seiten berechnen, was die Azteken offensichtlich auch getan hatten. Bildeten diese dagegen keinen rechten Winkel, berechneten die Forscher den Mittelwert zweier gegenüber liegender Seiten und multiplizierten diesen anschließend mit einer der beiden übrigen – ein schon etwas komplexeres Verfahren, da die Berechnung dieses Durchschnittswertes Division voraussetzt.

Kamen sie auch mit dieser Methode nicht auf das überlieferte Ergebnis, approximierten sie die Fläche, indem sie den bereits berechneten Durchschnittswert statt mit einer der restlichen Seiten mit deren Mittelwert multiplizierten. Wo kommen die Primzahlen her?

Das Problem: Einige der Flächen waren Primzahlen, die sich nicht als Produkt zweier natürlicher Zahlen außer Eins darstellen lassen. Wie kamen die Azteken trotzdem zu solch ungewöhnlichen Ergebnissen? Wahrscheinlich teilten sie ein unregelmäßiges Viereck mittels einer Diagonale in zwei Dreiecke. Deren Flächeninhalt berechneten sie nach für uns altbewährter Methode: Grundseite mal Höhe, dividiert durch zwei. Die Summe beider Ergebnisse entspricht gerade dem Gesamtflächeninhalt des Vierecks. Und durch die Addition können auch Primzahlen herauskommen.

Mit den angewandten Algorithmen ließen sich allerdings nur knapp zwei Drittel aller Flächen korrekt berechnen. Ausgerechnet jene Grundrisse, die im ersten Verzeichnis mit einem der Glyphen versehen waren, verschlossen sich hartnäckig jeglichem Lösungsweg. Was aber, wenn jene mysteriösen Zeichen zusätzliche Informationen zur Berechnung enthielten? In 69 Fällen waren die Forscher mit ihren Ergebnissen schließlich "dicht dran" am überlieferten Wert der Azteken – waren die Forscher womöglich dem Geheimnis der Glyphen auf der Spur?

In alten Aufzeichnungen der spanischen Kolonialherren fanden sie den entscheidenden Hinweis: Der in den Skizzen häufig eingefügte Pfeil wird dort mit einer halben Standardeinheit übersetzt. Und tatsächlich: Setzten die Wissenschaftler diese Information in ihre Gleichungen ein, kamen sie auf das gleiche Ergebnis wie die Azteken. Gleiches gelang mit jenen Glyphen, die eine Hand (drei Fünftel einer Standardeinheit), ein Herz (zwei Fünftel einer Standardeinheit), eine Waffe (ein Drittel einer Standardeinheit) und einen Knochen (ein Fünftel einer Standardeinheit) darstellen.

Die Landvermessung der Azteken basiert demnach auf ganzen Einheiten: ihrer Standardlänge tlalquahuitl, die sie mit einem Markierungsstrich darstellten, und kürzeren Distanzen, die sie durch die fünf Glyphen beschrieben. Anders als noch die Spanier glaubten, waren die Glyphen aber keine zu einer festen Basis definierten Bruchteile der Standardlänge – ähnlich unserem heutigen System mit Meter, Dezimeter (1/10 Meter) und Zentimeter (1/100 Meter). Stattdessen handelte sich um unabhängige Maße, vergleichbar mit dem britischen System von Zoll (einer Daumenbreite), Elle und Fuß.

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  • Quellen
Science 320: 72–77 (2008)

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