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Historische Astronomie: Warum die Tage länger werden

Mit antiken Wasseruhren lassen sich keine Präzisionsmessungen nach heutigen Maßstäben durchführen. Weder die Babylonier noch die Chinesen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. haben das geschafft. Umso erstaunlicher, dass ihre Beobachtungen von Sonnen- und Mondfinsternissen die Grundlage dafür liefern, dass ein Wissenschaftler der Gegenwart die Abbremsung der Erdrotation in den vergangenen fast 3000 Jahren berechnen kann.
Der britische Astronom F. Richard Stephenson zeigt in seinem Beitrag für die aktuelle Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2007, wie das möglich ist. Nachmachen wird ihm das so schnell niemand: Er musste babylonische Keilschriften, Chroniken chinesischer Dynastien, den Almagest des berühmten Alexandriner Gelehrte Claudius Ptolemäus und natürlich Beobachtungen aus dem Alten Europa interpretieren, um die Daten für seine Berechnungen zusammenzutragen. Die schließlich lieferten ihm die Antwort auf die Frage, ob irdische Tage tatsächlich immer länger werden.

Eine zentrale Rolle spielen dabei Sonnen- und Mondfinsternisse. Auch historische Beobachtungen der Art und Weise, wie der Erdmond die Sonne verdunkelt, wenn er mitten am Tag vor ihr vorüberzieht, oder wie der Mond abgeschattet wird, weil die Erde zwischen ihm und der Sonne steht, erlauben recht genaue Schlüsse über Ort und Zeit der Beobachtungen.

Vergleicht man diese nun mit den tatsächlichen Daten, die sich mittels astronomischer Berechnungen von Finsternissen ermitteln lassen, kommt es zu erstaunlichen Widersprüchen. Da wird etwa in Babylon über eine totale Sonnenfinsternis berichtet, die eigentlich nur von den Balearen aus sichtbar gewesen sein kann. Diese Widersprüche lösen sich erst dann auf, wenn man davon ausgeht, dass die Erde früher schneller rotierte: Die Uhren unserer Ahnen, die sich auf den Sonnentag bezogen, gingen anders als unsere. Erst wenn man ihre Zeitangaben mit dem heutigen Zeitsystem abgleicht, gelangt man zu den richtigen Ergebnissen.

Am Ende steht eine faszinierende Zahl, die einerseits grundsätzliche Bedeutung für die Zeitmessung hat, andererseits aber auch wichtige Hinweise auf die Einflussfaktoren gibt, die die Erdrotation abbremsen. Die Reibung der Gezeiten spielt dabei ebenso eine Rolle wie das Abschmelzen der Gletscher nach der letzten Eiszeit, sogar Austauschprozesse zwischen dem Erdmantel und dem flüssigen Erdkern und die wechselnden Passatwinde. Und wenn das Klima einmal einige Jahrhunderte lang wärmer ist als sonst, ist die Abbremsung sogar noch stärker als üblich.

F. Richard Stephenson hat sein Resultat aus Berichten gewonnen, die teilweise noch von vor der Zeitenwende stammen, und doch ist es unglaublich präzise. Die Drehung der Erde um sich selbst wird seit 2700 Jahren in jedem Jahrhundert um 1,7 Millisekunden abgebremst. Aktuelle Satellitenmessungen bestätigen seine Ergebnisse. Allerdings nur für die Gegenwart. Wie schnell sich die Welt in der Vergangenheit drehte, können wir allein von Stephenson erfahren.

Abdruck honorarfrei bei Quellenangabe: Spektrum der Wissenschaft, 10/2007
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