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Kolumne: Unsicherheit macht abergläubisch

Michael Shermer
Wann hatten Sie zuletzt das Gefühl, nicht mehr Herr der Lage zu sein? Hatten Sie sich vielleicht verlaufen oder gar ihre Arbeitsstelle verloren? Versuchen Sie einmal, sich an diese Situation zurückzuerinnern und blicken Sie dabei auf einen unregelmäßig strukturierten Gegenstand, etwa eine Wolke oder ein Stück Raufasertapete. Sehen Sie ein Muster? Im Jahr 2008 stellten Jennifer Whitson von der University of Texas in Austin und Adam Galinsky von der Northwestern University in Chicago zahlreiche Versuchspersonen vor eine ähnliche Aufgabe; die Ergebnisse der Studie erschienen später unter dem Titel "Lacking Control Increases Illusory Pattern Perception" in der Fachzeitschrift Science.

"Illusory pattern perception", also "trügerische Mustererkennung", definierten die Forscher dabei als "Identifizierung einer kohärenten und aussagekräftigen Beziehung zwischen einer Reihe von zufälligen oder unzusammenhängenden Stimuli ... (darunter etwa die Tendenz, fälschlicherweise Korrelationen zu vermuten, imaginäre Formen zu sehen, abergläubische Rituale zu entwickeln und Verschwörungstheorien anzuhängen)". Ihre These: "Wenn Individuen nicht in der Lage sind, ein sachlich begründetes Gefühl der Kontrolle über ihre Situation zu erlangen, versuchen sie dieses Gefühl auf der Ebene ihrer Wahrnehmung herzustellen." Whitson erklärte mir das wie folgt: "Das Gefühl, die eigene Situation kontrollieren zu können, ist von zentraler Bedeutung für unser Wohlbefinden. Wir denken klarer und fällen bessere Entscheidungen, wenn wir uns der Situation gewachsen fühlen. Kontrollverlust scheuen wir dagegen und suchen in einem solchen Fall instinktiv nach Mustern und Zusammenhängen, die uns erneut Sicherheit geben. Häufig sehen wir dabei aber auch Muster, die gar nicht existieren."

Galinsky und Whitson platzierten Probanden vor Computerbildschirmen und forderten sie auf zu erraten, welches von zwei Bildern einer vom Computer ausgewählten, ihnen aber unbekannten Systematik gehorchte. Beispielsweise sahen sie den Großbuchstaben A und ein kleines t, die farbig, unterstrichen oder von einem Kreis umgeben waren und tippten dann beispielsweise auf "Alle A's sind rot". Tatsächlich lag den Buchstabenfolgen jedoch gar kein System zugrunde, stattdessen steckte hinter den Antworten des Computers, dass ihre Vermutungen richtig beziehungsweise falsch seien, lediglich das Zufallsprinzip. Bei den Versuchspersonen stellte sich darum schnell ein Gefühl von Verwirrung ein. Eine zweite Gruppe von Teilnehmern erhielt dagegen schlüssige Rückmeldungen, so dass diese das Gefühl gewinnen konnten, die Situation im Griff zu haben.

Muster in eigentlich inhaltslosen Bildern

Nach dieser Übung sahen die Probanden 24 schwarzweiße Fleckenbilder, von denen manche versteckte Formen wie Pferde oder einen Stuhl enthielten, während die übrigen aus rein zufälligen Punktmustern bestanden. Die versteckten Formen erkannten fast alle Teilnehmer, interessant war jedoch, dass die Kontrollverlust-Gruppe auch in eigentlich inhaltslosen Bildern deutlich häufiger Muster erkannte.

In einem weiteren Experiment ließen Whitson und Galinsky die Probanden an ein Erlebnis in ihrem Leben zurückdenken, bei dem sie entweder völlig Herr der Lage waren oder aber sich der Situation ausgeliefert fühlten. Anschließend sollten sie Geschichten lesen, deren Protagonisten zunächst eine beliebige oder abergläubische Handlung vornahmen, also zum Beispiel vor einer wichtigen Verhandlung energisch mit dem Fuß aufstampften, und dann entweder erfolgreich waren oder eine Niederlage erlitten. Und schließlich wurden sie gefragt, ob der Ausgang der Geschichte in einer Beziehung zu dem vorangegangenen Verhalten der Protagonisten stand. Diejenigen Versuchspersonen, denen zuvor aufgetragen worden war, Erinnerungen an einen Kontrollverlust wachzurufen, stellten dabei signifikant häufiger eine Verbindung zwischen dem Ritual und dem Schicksal der Person her als die Mitglieder der zweiten Gruppe. Nach dem Lesen einer Geschichte über einen Angestellten, der nicht befördert wurde, tendierten sie interessanterweise auch zu der Überzeugung, andere Mitarbeiter hätten sich gegen ihn verschworen.

In ihrem abschließenden Experiment setzten die US-Forscher gleich zwei Teilnehmergruppen dem Gefühl des Kontrollverlusts aus. Dann forderten sie die Teilnehmer einer der Gruppen auf, sich auf ihre wichtigsten Lebensziele zu konzentrieren – eine bekannte Strategie zur Bekämpfung erlernter Hilflosigkeit –, und zeigten anschließend beiden Gruppen die Fleckenbilder. Und tatsächlich: Jene Teilnehmer, die vorab keine Gelegenheit zur Selbstbestätigung gehabt hatten, sahen darin mehr inexistente Muster als die Mitglieder der Vergleichsgruppe.

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Ein verwandtes Experiment hatte die Harvard-Psychologin Ellen J. Langer gemeinsam mit Judith Rodin, die nun Präsidentin der Rockefeller-Stiftung ist, bereits im Jahr 1976 durchgeführt. Einer Reihe von Bewohnern eines Altenheims in New England wurden Zimmerpflanzen übergeben, doch nur einige von ihnen erhielten die Gelegenheit, sich auch selbst um sie zu kümmern. Jene von ihnen, die ihre Pflanzen selbst gießen sollten, lebten durchschnittlich länger und gesünder als die anderen, selbst im Vergleich zu jenen, deren Pflanzen vom Pflegepersonal gegossen wurden. Offenbar hatte ihr Gefühl, die Kontrolle zu besitzen, Auswirkungen sowohl auf ihr geistiges wie körperliches Wohlbefinden.

Ähnliches meinte womöglich auch Voltaire am Ende seines Romans Candide oder der Optimismus. "Alle Ereignisse sind miteinander verknüpft in der besten aller möglichen Welten", sagt dort der Lehrmeister der Titelfigur. "'Das ist wohl gesprochen', antwortete Candide, 'aber wir müssen unseren Garten bestellen.'"

Der US-Amerikaner Michael Shermer ist Herausgeber der Zeitschrift Skeptic und Sachbuchautor.

Dieser Beitrag ist im Original im Scientific American erschienen.

Übersetzung: Ralf Strobel

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