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Lawinenforschung: Ein Gespür für Schnee

Bislang sprachen Risse im Schnee oder Neuschnee, insbesondere auf steilen, unbewaldeten Hängen, für eine erhöhte Lawinengefahr. Forscher haben jetzt aber gezeigt, dass ein Hang alleine noch keine Lawine macht - die Struktur des Schnees ist entscheidend.
So verträumt weißglitzernde Berghänge auch vor uns liegen – die Ruhe ist tückisch. Schnell und unerwartet kann die weiße Masse in Bewegung geraten und Skifahrer, Wanderer oder auch ganze Dörfer unter sich begraben.

Die klassische Gefahr für Bergsteiger und Wintersportler ist dabei die Schneebrettlawine, bei der ausgedehnte Areale der Schneedecke zusammenhängend abrutschen. Die so genannten Schneebretter bestehen oft aus sprödem, schwer erkennbarem Triebschnee. Um eine solche Lawine auszulösen, reichen schon kleine zusätzliche Belastungen, wie beispielsweise das Gewicht eines Menschen, zusätzlicher Schneefall oder einen Festigkeitsverlust bei Temperaturschwankungen.

Risse im Schnee
Diese Art der Lawine beginnt mit einem Riss im Schnee. Durch die Schwerkraft angetrieben, weiten sich die Risse auf und verursachen starke Scherkräfte, denen sich die Platte irgendwann nicht mehr widersetzen kann. Lawinenforscher erklärten bislang nur, warum sich diese Risse an Berghängen ausbreiten. Warum sie aber scheinbar auch in der Ebene entstehen und wachsen, wo keine hangabwärts treibenden Gravitationskräfte auf sie wirken, war ein Widerspruch in der Theorie. Dieses Problem haben Joachim Heierli und Kollegen des Centre of Materials Science and Engineering der University of Edinburgh jetzt gelöst.

Warum flache Hänge und ebenes Gelände genauso gefährlich sind

Schneebrettlawine | Beispiel für eine Schneebrettlawine. Der Schnee im Areal im oberen Bildteil beginnt, sich an einem Stück zu bewegen.
Heierli und Kollegen verwendeten für ihre Theorie Ergebnisse aus Experimenten, bei denen kanadische Forscher um Bruce Jamieson Schneeplatten künstliche Risse zugefügt hatten. Die kritische Länge dieser Risse – also die Länge, nach der sich ein Riss selbstständig fortsetzt – hatte sich, ganz anders als vermutet, als völlig unabhängig von der Hangneigung erwiesen. Auch bei flachen Wegen hatte sich eine Länge von einigen wenigen Dezimetern ergeben, ab der gefährliche Brüche sich im Schnee ausbreiten.

Heierli erklärt das Verhalten der Risse in der Ebene nun mit Hilfe des so genannten "Anticrack-Modells". Anticracks sind spezielle Risse, bei denen innere Kohäsionskräfte im Material verloren gehen und sich gleichzeitig das spezifische Volumen verkleinert. Durch diesen Prozess wird im Innern Platz für die Bruchflächen geschaffen, die in das Material hineinsinken und die Reibungsverhältnisse des Materials verändern. Auf einen solchen Anticrack wirkt nicht nur die hangabwärts gerichtete Schwerkraft, sondern auch die Senkrechtkomponente. Diese kann dann für die Ausbreitung des Risses in der Ebene verantwortlich gemacht werden.

Schnee verhält sich wie Sandstein

Schneestruktur | Schnee besteht aus gesinterten Eiskristallen und reichlich Zwischenraum. Die Elektronenmikroskopaufnahme zeigt die Struktur von künstlich hergestelltem Laborschnee im zehntel Millimeter Bereich.
Das Konzept der Anticracks war bereits bekannt und zum Beispiel auf Bruchvorgänge in körnigen, porösen Materialien wie beispielsweise in Sandstein angewendet worden. Dieser kann bei tektonischer Überbelastung kollabieren.

Schnee zeigt hier überraschende Ähnlichkeit mit Sandstein. Gerade dünne Schichten, so die Forscher, haben oft eine stark ungleichmäßig verteilte räumliche Mikrostruktur, die unter Verkleinerung des spezifischen Volumens zusammenbrechen und Anticracks bilden kann.

Der Hang alleine ist nicht entscheidend

Bei der Geburt einer Lawine kollabiert also zunächst ein Bereich im Schnee und bildet einen "Anticrack". Ursache können neuerlicher Schneefall, Wind, ein Wanderer oder auch Skifahrer sein. Ist der kollabierte Bereich genügend ausgedehnt und überschreitet er die kritische Länge, dann setzt sich dieser Riss in der Schneeplatte fort.

Dörfer von Lawinen bedroht | Blick ins Tal von einem Lawinenpfad: Während der Winterzeit sind Schneelawinen eine der größten Sorgen der Bergbevölkerung. Das Überwachen des Schnees durch Lawinenexperten ist eine wichtige Maßnahme, um das Katastrophen-Risiko zu reduzieren.
Danach kann die Schneeplatte dann entweder abrutschen oder nicht – je nach Reibungskräften an den Bruchflächen und Neigungswinkel des Hanges. Kennt man die Reibung im Anticrack, kann man die kritische Hangneigung berechnen, ab der die Schneeplatte ins Rutschen gerät.

Wer unten geht, kann oben Lawinen auslösen

Die Ergebnisse erklären, so die Forscher, warum nicht alle Risse im Schnee zu Lawinen führten. Die Reibung kann groß genug sein, um bei einem schwachen Hang die abschüssigen Gravitationskräfte zu überbieten. Es ist also relevanter als bislang angenommen, die Eigenschaften des Schnees zu untersuchen, um die Reibungskräfte vorhersagen zu können.

Ferner zeigen die Resultate, warum Schneelawinen von Wanderern ausgelöst werden könnten, die sich im flachen Bergland bewegen. Wenn sich nämlich der von ihnen verursachte Anticrack bis in geneigtes Terrain fortpflanzt, kann er dort eine Lawine in Gang setzen. Liegt das geneigte Terrain über ihm, kann es sogar den Wanderer selbst betreffen.

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  • Quellen
Heierli, J. et al: Anticrack Nucleation as Triggering Mechanism for Snow Slab Avalanches. In: Science 10.1126/science.1153948, 2008.

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