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Der Mathematische Monatskalender: Al Kindi (800–870): »Der erste Philosoph der arabischen Welt«

Vor gut 1200 Jahren lebte Abu Yusuf Yaqub ibn Ishaq al-Sabbah al Kindi in Bagdad. Seine philosophischen Schriften verhalfen ihm zum Ehrennamen »erster Philosoph der arabischen Welt«, darüber hinaus verfasste er Abhandlungen über Geometrie, Arithmetik, Logik, Physik und Astronomie, selbst über Geografie, Medizin und Kunst.
Islamischer Gelehrter bei der Arbeit

Abu Yusuf Yaqub ibn Ishaq al-Sabbah al Kindi stammt aus einer wohlhabenden und einflussreichen arabischen Familie aus der Region um Kufa (südlich von Bagdad); sein Vater wie auch schon sein Großvater regieren dort als Statthalter des Kalifen. Reichtum und Einfluss der Familie gewährleisten eine umfassende Erziehung, an die sich ein Studium in Bagdad anschließt. Schnell verbreitet sich der Ruf seiner besonderen Gelehrsamkeit, so dass der Kalif Al-Mamun ihn – zusammen mit den drei Banu Musa Brüdern und Mohammed Al-Khwarizmi – in das neu gegründete »Haus der Weisheit« beruft.

Der aufgeklärte Herrscher beauftragt sie mit der Übersetzung wissenschaftlicher Schriften aus verschiedenen Kulturkreisen ins Arabische. Al Kindi beschäftigt sich dabei vor allem mit den philosophischen Schriften der Griechen; aufgrund seines Reichtums ist er in der Lage, die Übersetzer hierfür zu bezahlen – er selbst (obwohl ohne Griechisch-Kenntnisse) kümmert sich darum, die übersetzten Texte zu glätten. Diese Bearbeitungen ergänzt er durch Kommentare, und schließlich entstehen eigene philosophische Schriften, so dass al Kindi später den Ehrennamen »erster Philosoph der arabischen Welt« erhält. Auch unter der Herrschaft des nachfolgenden Kalifen, Al-Mutasim, Bruder von Al-Mamun, kann al Kindi seine Arbeit fortsetzen; er genießt das Vertrauen auch dieses Herrschers und kümmert sich zeitweise sogar um die Erziehung von dessen Sohn Ahmed.

Dies ändert sich dramatisch ab dem Jahr 842, als orthodoxe Kalifen an die Macht kommen: Mittel für Forschung und Lehre werden gekürzt, nicht-muslimische Gruppen verfolgt, Synagogen und Kirchen in Bagdad zerstört. Al Kindis Vermögen und seine persönliche Bibliothek werden vorübergehend beschlagnahmt, einige Quellen berichten sogar von einem Kerkeraufenthalt – möglicherweise wird er »nur« Opfer einer Intrige seitens der Banu Musa Brüder.

Über die weiteren Lebensjahre von al Kindi sind keine Einzelheiten bekannt; vermutlich kann er sich auch weiterhin – mit Einschränkungen – seinen Studien und Studenten widmen. Die Anzahl der insgesamt von ihm verfassten Schriften (größtenteils kürzerer Art) übersteigt wohl die Zahl 250. Die Interessen des Universalgelehrten sind sehr vielseitig: Er verfasst 32 Abhandlungen über Geometrie (mehrere Kommentare zu Euklids Elementen, darunter eine Theorie der Parallelen, in der er die Möglichkeit untersucht, ob zwei nicht zueinander parallele Geraden sich notwendigerweise schneiden müssen) und elf Schriften über Arithmetik (wie Mohammed Al-Khwarizmi erkennt er die Vorteile des dezimalen Stellenwertsystems und propagiert dessen Verwendung durch »Lehrbriefe« zu den Rechenverfahren für seine Schüler). Außerdem verfasst er Schriften über Logik (Zusammenfassung der Logik des Aristoteles und späterer Kommentatoren), über Physik und Astronomie, aber auch über Themen aus Geografie, Medizin und Pharmakologie, Kunst und Musiktheorie. Die meisten seiner Schriften gehen verloren; etliche Werke werden im Mittelalter ins Lateinische übersetzt.

Überraschenderweise werden im 20. Jahrhundert verloren geglaubte Werke wiederentdeckt, darunter im Jahr 1987 eine »Abhandlung über die Entzifferung von verschlüsselten Botschaften«. In der »Schule der Weisheit« hatten nämlich islamische Theologen damit begonnen, die Texte des Koran auch hinsichtlich ihrer Wortwahl zu studieren, um herauszufinden, ob tatsächlich alle Texte dem Propheten zuzuschreiben sind und zu welchem Zeitpunkt sie entstanden sein könnten. Dies ging soweit, dass sie sich mit der Häufigkeit von einzelnen Buchstaben und von Buchstabenkombinationen beschäftigten. In seiner Abhandlung untersucht al Kindi eingehend die Phonetik und Syntax der arabischen Sprache sowie die Häufigkeitsverteilung der Buchstaben; dann schreibt er: »Eine Möglichkeit, eine verschlüsselte Botschaft zu entziffern, vorausgesetzt, wir kennen ihre Sprache, besteht darin, einen anderen Klartext in derselben Sprache zu finden, der lang genug ist, um ein oder zwei Blätter zu füllen, und dann zu zählen, wie oft jeder Buchstabe vorkommt. ... Dann betrachten wir den Geheimtext, den wir entschlüsseln wollen, und ordnen auch seine Symbole. Wir finden das häufigste Symbol und geben ihm die Gestalt des »ersten« Buchstabens der Klartextprobe, das zweithäufigste Symbol wird zum »zweiten« Buchstaben ... bis wir alle Symbole des Kryptogramms, das wir entschlüsseln wollen, auf diese Weise zugeordnet haben.« (aus Simon Singh, Geheime Botschaften).

In seinen Schriften zu Naturwissenschaften betont al Kindi die Bedeutung des Experiments für wissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere legt er Wert auf die quantitativen Beobachtungen. Er setzt sich mit den Alchimisten auseinander und bestreitet die Möglichkeit, Gold und Silber aus weniger wertvollen Metallen herstellen zu können; angeregt durch die Experimente von Abu Musa Dschabir ibn Hayyan (in Europa unter dem Namen Geber bekannt) destilliert er reinen Alkohol (Ethanol). Er experimentiert mit Duftstoffen und verfasst Rezepte, nach denen wertvolle, teure Stoffe durch preiswertere ersetzt werden können (einige Quellen bezeichnen ihn daher als »Vater der Parfum-Industrie«). In seinen medizinischen Schriften führt er eine (mathematische) Skalierung für die Konzentration von Medikamenten ein.

Im Rahmen der Bearbeitung von Übersetzungen griechischer Philosophen beschäftigt sich al Kindi vor allem mit den Werken des Aristoteles und der Neu-Platoniker. Da er der erste arabische Philosoph ist, werden durch die Übersetzungen und insbesondere durch seine Schrift »Über die Definitionen und die Beschreibung der Dinge« philosophische Standardbegriffe geprägt und in die arabische Sprache eingeführt. Das Anliegen seiner eigenen philosophischen Schriften ist es zu zeigen, dass Philosophie und (islamische) Religion miteinander vereinbar sein können. Philosophie ist für ihn das Erkennen der wahren Natur der Dinge; hierzu darf seiner Ansicht nach der Mensch alle Quellen nutzen, die ihm dabei helfen können: »Wir brauchen uns nicht zu schämen, die Wahrheit ... zu erwerben, wo immer sie auch herkommt, ... sogar von fremden Völkern ...«, schreibt er vor allem in Richtung der orthodoxen Geistlichkeit in seinem Buch »Über die erste Philosophie«.

Für ihn gibt es keinen wirklichen Unterschied zwischen Metaphysik und Theologie – beide dienen seiner Meinung nach der Erkenntnis Gottes. Dennoch vermeidet er den Konflikt mit den Lehren des Islam, etwa hinsichtlich der Auferstehung der Toten und des Jüngsten Gerichts, und räumt göttliche Offenbarung als eine mögliche Quelle der menschlichen Erkenntnis ein. Entgegen der griechischen Tradition vertritt er die Ansicht, dass die Schöpfung aus dem Nichts (»creatio ex nihilo«) geschah und dass Zeit und Raum endlich sind.

Dass seine Schriften insgesamt jedoch keine nachhaltige Wirkung haben, hat verschiedene Gründe: Zunächst einmal sind es die politischen Machtverhältnisse – viele seiner freidenkerisch erscheinenden Ansichten missfallen der militanten orthodoxen Geistlichkeit, und er wird immer wieder gezwungen, seine Rechtgläubigkeit nachzuweisen. (Letztendlich führen diese Spannungen zwischen autonomem Denken und Wahrheitsanspruch der Offenbarung des Koran dazu, dass sich die Philosophie im Islam nicht wirklich entfalten kann.) Später dann, im 13. Jahrhundert, werden zahlreiche Bibliotheken durch die mongolischen Eindringlinge zerstört und damit auch viele der Schriften al Kindis vernichtet. Vor allem aber spielt die Tatsache eine Rolle, dass nachfolgende Gelehrte wie Abu Nasr al-Farabi (870–950) und Abu Ali al-Husain ibn Sina (980–1037), in Europa auch unter dem Namen Avicenna bekannt) sein Licht überstrahlten und durch ihre Schriften einen größeren Einfluss hatten.

al Kindi (800 – 870)

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