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Der Mathematische Monatskalender: Sofia Kowalewskaja (1850–1891): Die erste Mathematikprofessorin

Ihre Begeisterung für Mathematik ließ Sofia Kowalewskaja alles andere vernachlässigen, sodass der Vater ihr schon früh die Beschäftigung damit verbot. Dies war aber nur die erste der Hürden, die sie auf dem Weg zur ersten Mathematikprofessorin der jüngeren Wissenschaftsgeschichte überwinden musste.
Sofja Kowalewskaja

Sofia Wassiljewna Kowalewskaja wird als zweite Tochter eines Generals der russischen Armee, Wassili Wassiljewitsch Krukowski, und seiner 20 Jahre jüngeren Frau Elisabeth Fjodorowna Schubert, in Moskau geboren. Wie es in den wohlhabenden Familien des Adels üblich ist, erfolgt die Erziehung durch eine englische Gouvernante sowie durch Hauslehrer. Schon früh übt die Mathematik eine besondere Faszination auf sie aus; sie lauscht den Gesprächen zwischen ihrem Vater und ihrem Onkel über mathematische Themen – auch wenn sie die Inhalte im Einzelnen nicht versteht. Wie berichtet wird, wächst ihre Neugier, als die Wände des Kinderzimmers (in Ermangelung einer gewöhnlichen Tapete) vorübergehend mit Blättern beklebt werden, die aus dem Manuskript der Analysisvorlesung von Michail Ostrogradski (1801 – 1861) stammen. Als schließlich einer der Hauslehrer mit dem systematischen Unterricht in Mathematik beginnt, vernachlässigt sie alles andere, so dass der Vater sich veranlasst sieht, ihr die Beschäftigung mit Mathematik zu verbieten. Aber Sofia besorgt sich ein Buch über Algebra, das sie nachts heimlich liest.

Eines Tages stellt ein Nachbar, der Physikprofessor Tyrtow, der Familie sein neues Buch vor. Die zwölfjährige Sofia liest in dem Buch, versucht, die Texte zu verstehen, scheitert aber zunächst an Formeln, in denen trigonometrische Funktionen vorkommen. Sie gibt jedoch nicht auf und erschließt sich deren Bedeutung aus dem Zusammenhang. Der Nachbar ist fassungslos, als sie ihm Fragen stellt, die darauf hindeuten, dass sie das Gelesene tatsächlich verstanden hat. Tyrtow versucht den Vater davon zu überzeugen, dass die Tochter unbedingt wieder Lektionen in Mathematik erhalten solle, aber es vergehen Jahre, bis der Vater es wieder zulässt. Um zu einer »höheren« Bildung in Mathematik zu kommen, müsste sie von zu Hause weggehen. Als unverheiratete Frau benötigt sie dafür jedoch die Erlaubnis ihres Vaters. Da er ihr dies verweigert, bleibt ihr nur ein Ausweg – die Heirat.

Kurz bevor Sofia 18 Jahre alt wird, heiratet sie Wladimir Kowalewski – allerdings nur zum Schein: Ihr Ehemann ist Anhänger der sogenannten »Nihilisten«, die aktiv für das Recht der Frauen auf Bildung eintreten und es als »Ehrensache« ansehen, die »Töchter Russlands zu befreien«. Die Eltern akzeptieren nichtsahnend den angehenden Paläontologen als Ehemann für die Tochter.

Im darauf folgenden Jahr reist das Paar nach Heidelberg, damit Sofia Kowalewskaja dort ein Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften aufnehmen kann: Jedoch dürfen sich Frauen zu dieser Zeit auch an den deutschen Universitäten noch nicht offiziell einschreiben. Nach vielen vergeblichen Vorsprachen wird ihr endlich gestattet, dass sie immerhin die einzelnen Dozenten um Erlaubnis fragen darf, den Vorlesungen »beizuwohnen«. Schnell erkennen die Professoren, darunter Leo Königsberger (Schüler von Weierstraß), Hermann Helmholtz und Gustav Robert Kirchhoff die außergewöhnliche Begabung der jungen Frau.

Nach drei Semestern wechselt sie mit einer Empfehlung Königsbergers nach Berlin, um dort das Studium bei Karl Weierstraß selbst fortzusetzen, dessen Analysis-Vorlesungen wegen ihrer besonderen wissenschaftlichen Strenge Berühmtheit erlangt haben. Dieser nimmt das mitgegebene Empfehlungsschreiben zunächst nicht einmal zur Kenntnis, stellt aber der »Bittstellerin« eine Aufgabe, die sie zu seiner Überraschung in kurzer Zeit lösen kann. Da die Universitätsleitung trotz der Fürsprache von Weierstraß ihr noch nicht einmal die Erlaubnis gibt, bei seinen Vorlesungen anwesend zu sein, sieht er nur eine Möglichkeit, sie zu fördern: Zweimal in der Woche unterrichtet und betreut er sie in privaten Treffen.

1874 stellt Sofia Kowalewskaja drei Arbeiten fertig – nach Einschätzung von Weierstraß genügt jede für sich genommen bereits für eine Promotion. Die erste Arbeit bringt die Erforschung bzgl. der Lösbarkeit von partiellen Differentialgleichungen zu einem vorläufigen Abschluss. (Differentialgleichungen sind Gleichungen, durch die Beziehungen zwischen Funktionen und ihren Ableitungen beschrieben werden; das Lösen einer Differentialgleichung bedeutet, alle in Frage kommenden Funktionen zu finden, welche die Beziehung erfüllen. Bei partiellen Differentialgleichungen treten mehrere Variablen auf.) In der zweiten Arbeit setzt sich Kowalewskaja mit so genannten »abelschen Integralen« auseinander und zeigt Verfahren auf, wie man sie auf einfachere Integrale zurückführen kann. Im dritten Betrag verbessert sie die Theorien von Pierre Simon Laplace über die Physik der Saturnringe.

Weierstraß hat große Mühe, eine Universität in Deutschland zu finden, welche die Arbeiten als Grundlage für eine Promotion anerkennt; endlich ist die Universität Göttingen dazu bereit und verleiht ihr den Titel in absentia mit dem Prädikat summa cum laude. Im Vorfeld muss Weierstraß sogar Gauß als Zeugen zitieren, der 1837 mit Bedauern festgestellt hatte, man habe es versäumt, der Mathematikerin Sophie Germain noch zu ihren Lebzeiten einen Doktortitel zu verleihen.

Noch viele Jahre lang wird den Frauen das Recht und die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Arbeit versagt; beispielsweise bestreitet der Arzt und Neurologe Paul Möbius jegliche Selbstständigkeit der Gedankenführung in den wissenschaftlichen Arbeiten von Sonja Kowalewskaja (Titel seines Buches aus dem Jahr 1900: »Über die Anlage zur Mathematik«, Kapitel »Über die mathematischen Weiber«). Als man in einer ihrer späteren Arbeiten über Lichtbrechung einen Fehler findet, werden Stimmen laut, dass ein solcher Fehler einem Mann nicht hätte unterlaufen können – tatsächlich aber besteht der Fehler darin, dass sie eine der Versuchsbedingungen von einem anderen Wissenschaftler (einem Mann) übernimmt, ohne dessen Angaben überprüft zu haben.

Trotz des akademischen Titels und verschiedener Empfehlungsschreiben ihres Förderers Weierstraß gelingt es ihr nicht, eine Anstellung an einer Hochschule zu finden. Die Folge von Ablehnungen und Enttäuschungen stürzt sie in eine sechs Jahre andauernde seelische Krise, in der sie sich nicht mit Mathematik beschäftigt. Sie kehrt nach Russland zurück, wo ihr in Deutschland erworbener akademischer Titel nicht anerkannt wird; höchstens als Lehrerin für Mädchen könnte sie tätig werden.

Mit dem ursprünglich nur zum Schein angetrauten Ehemann geht sie eine wirkliche Ehe ein, bringt eine Tochter zur Welt, trennt sich wieder von ihrem Mann. Der Selbstmord Wladimirs im Jahr 1883 ist zunächst ein Schock, stellt aber auch eine Befreiung für sie dar. Mit großer Intensität beschäftigt sie sich wieder mit Mathematik, auch um Schuldgefühle zu verdrängen. Als verwitwete Frau darf sie ohne Einschränkungen reisen, was zuvor nur mit ausdrücklicher schriftlicher Zustimmung des Vaters bzw. des Ehemannes – selbst nach der Trennung – möglich war.

Erst Magnus Gösta Mittag-Leffler, erster Mathematikprofessor der neu gegründeten Universität von Stockholm, Schüler von Charles Hermite (Paris) und Karl Weierstraß (Berlin), verschafft ihr in Stockholm eine zunächst auf fünf Jahre befristete Stelle als Mathematikdozentin. Ihre Vorlesungen hält sie im ersten Jahr noch in deutscher Sprache, dann hat sie so viel Schwedisch gelernt, dass sie in dieser Sprache lehren kann. 1889 endlich erhält sie als erste Frau der jüngeren Wissenschaftsgeschichte eine Professur in Mathematik. Sie hält Vorlesungen über Analysis, wird Mitherausgeberin einer fachwissenschaftlichen Zeitschrift und organisiert internationale Mathematikerkongresse. 1886 folgt die Verleihung des Prix Bordin der Französischen Akademie der Wissenschaften, ein Wettbewerb, bei dem die Beiträge anonym eingereicht werden; wegen der außerordentlichen Qualität der Arbeit erhöht die Jury das ausgesetzte Preisgeld sogar von 3000 auf 5000 Francs. 1889 gewinnt sie den Preis der Schwedischen Akademie und wird nur dank des persönlichen Einsatzes von Pafnuti Lwowitsch Tschebyschew zum korrespondierenden Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften ernannt – was im konservativen zaristischen Russland erst nach Änderung der Hochschulstatuten möglich ist.

Mitten in einer neuen, intensiven Schaffensphase stirbt Sonja Kowalewskaja an einer zu spät behandelten Lungenentzündung.

Sofia Kowalewskaja (1850 – 1891)

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