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Physiologie: Der Zwang zum Atemholen

Heidelberg. 15 Minuten und 13 Sekunden – diesen Rekord in der Disziplin "Atem anhalten" stellte eine geübte Versuchsperson vor rund 80 Jahren auf. Dabei griff sie sicherlich auf ähnliche Tricks zurück, die heutzutage auch Tauchsportler in die Lage versetzen, für zehn Minuten und länger auf das Luftholen zu verzichten. Ohne spezielle Techniken dagegen kann kaum ein Mensch den natürlichen Atemreflex für mehr als 60 Sekunden unterdrücken – obwohl es aus physiologischen Gründen durchaus möglich wäre, das Luftholen noch weiter hinauszuzögern. Welche Mechanismen im Körper hier ihre Hand im Spiel haben, erläutert "Spektrum der Wissenschaft" in seiner Oktoberausgabe.
Luftanhalten. Junge beim Tauchen im Schwimmbad.

Jahrzehntelang rätselten Forscher, wer oder was verhindert, dass wir uns der unwillkürlichen Kontrolle des Atemzyklus dauerhaft entziehen können. Systematische Experimente im großen Stil waren unmöglich: Nur wenige tollkühne Probanden meldeten sich freiwillig für Tests, in denen Mediziner die Atemmuskulatur der Versuchspersonen lähmten. Mittlerweile ergeben die vorhandenen Daten dennoch ein relativ klares Bild. So scheint das kontrahierte Zwerchfell der Informant zu sein, der dem Gehirn die entscheidenden Signale übermittelt, das Atemanhalten zu beenden. Was dabei genau vor sich geht, untersucht auch Michael J. Parkes, Physiologie-Dozent an der University of Birmingham und Autor des Spektrum-Artikels.

Zum Hintergrund: Zumindest unter den Druckverhältnissen auf Meereshöhe hat es bisher noch kein Mensch geschafft, absichtlich so lange nicht zu atmen, bis er ohnmächtig umgekippt wäre, weil sein Gehirn nicht mehr genügend Sauerstoff erhalten hätte. Welcher physiologische Mechanismus uns normalerweise nach spätestens einer Minute des Luftanhaltens reflexartig zum Einatmen zwingt, erkunden Wissenschaftler seit den 1950er Jahren. Hierbei fanden sie heraus, dass weder Chemorezeptoren für Konzentrationen einzelner Gase im Blut noch Volumensensoren in Lunge oder Brustkorb dafür verantwortlich sind.

Anfang dieses Jahrtausends wies Michael J. Parkes zusammen mit zwei Kollegen nach, was der Italiener Emilio Agostoni bereits 1963 vermutet hatte: Das Atemzentrum gibt dem Zwerchfell auch dann Impulse, sich zusammenzuziehen, wenn wir die Luft anhalten. Damit konnten sie das bis dahin unverstandene Ergebnis eines mutigen Versuchs erklären, der Ende der 1960er Jahre in London stattgefunden hatte: Zwei gesunde Personen ließen ihre Muskeln freiwillig mit dem lähmenden Gift Curare vorübergehend immobilisieren. Nur einen Arm konnten sie noch bewegen – mit diesem sollten sie die überwachenden Anästhesisten informieren, wenn der Drang zum Luftholen einsetzte. Allerdings gaben sie nach vier Minuten immer noch kein Signal, woraufhin die Ärzte das Experiment abbrachen. In weiteren Tests betäubten die Forscher lediglich die Zwerchfellnerven der Teilnehmer, die daraufhin doppelt so lange den Atem anhalten konnten wie sonst. Diese Ergebnisse sprechen klar dafür, dass der Muskel zwischen Brust- und Bauchhöhle eine entscheidende Rolle in dem Steuerungsprozess spielt. Andere Versuche weisen jedoch darauf hin, dass das noch nicht die ganze Wahrheit ist.

Ein besseres Verständnis der Mechanismen, welche die Dauer des Luftanhaltens begrenzen, könnte unter anderem Brustkrebspatientinnen zugute kommen. Deren Therapie würde sich nämlich verbessern, wenn es ihnen gelänge, während der Bestrahlung länger auf Bewegungen der betroffenen Körperregion zu verzichten. Deshalb bleibt zu hoffen, dass den Wissenschaftlern nicht die Puste ausgeht und sie auch noch die letzten Rätsel über das System ergründen, das stärker ist als unser Wille, die Luft anzuhalten.

Abdruck honorarfrei bei Quellenangabe: Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2012
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