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Christian Hoppe
Stellen Sie sich einmal diese Situation vor: Sie bestellen im Straßencafé einen Milchkaffee – und der Kellner serviert Ihnen ein Kännchen Kaffeemilch. »Wo ist die versteckte Kamera?«, würde es mir jedenfalls durch den Kopf schießen.

Die deutsche Sprache erlaubt es, einzelne Wörter zu neuen zu kombinieren, wobei das vordere Glied das hintere näher bestimmt. Milchkaffee ist eben in erster Linie Kaffee, und Kaffeemilch ist Milch. Komposita auseinander zu halten ist auch in den Neurowissenschaften wichtig. Hier gibt es zum Beispiel die Neuropsychologie. Als Psychologie untersucht diese Disziplin das Verhalten und Erleben von Individuen in ihrer Umwelt. Die nähere Bestimmung »Neuro-« verweist auf das Bemühen, beobachtete Unterschiede kausal durch Unterschiede auf der neuronalen Ebene zu erklären. Diese treten entweder bei Hirnerkrankungen auf (klinische Neuropsychologie) oder werden gezielt zu Forschungszwecken herbeigeführt (experimentelle Neuropsychologie). Entsprechende Einflussnahmen auf das Gehirn führen in der Regel zu einer kurzzeitigen psychologischen Funktionsstörung – etwa bei elektrischer Stimulation der Hirnrinde oder Alkoholkonsum.

Gerade umgekehrt macht es die Psychophysiologie. Sie ist in erster Linie Physiologie; entsprechend verwendet sie neurophysiologische Messmethoden wie etwa das EEG. Durch eine systematische experimentelle Variation auf der psychologischen Ebene (zum Beispiel durch verschiedene Aufgabenbedingungen) werden bestimmte physiologische Prozesse hervorgerufen. Diese lassen sich jedoch überhaupt erst durch ihren Zusammenhang mit psychologischen Phänomenen identifizieren. Auch die funktionelle Bildgebung des Gehirns (fMRI) ist Psychophysiologie. Die intakte psychologische Funktion ist eine Grundvoraussetzung dieses Forschungsansatzes.

Forscher wie Journalisten tun gut daran, sich diese beiden methodischen Ansätze bewusst zu machen – indem sie klar zwischen Neuropsychologie und Psychophysiologie unterscheiden. Die Dualität ist sogar eine doppelte: auf der Ebene der Untersuchung (Psyche versus Gehirn) einerseits und der experimentellen Zugänge (psychologische versus hirnmaterielle Manipulation) andererseits. Die Psychologie ist also für ein Verständnis des Gehirns unverzichtbar – und ein Verständnis des Gehirns für die Psychologie! Neurometaphorische Kurzschlüsse (zum Beispiel »das Gehirn entscheidet«) übergehen diese Tatsache fahrlässig.

Die heute so hoch geschätzte Psychophysiologie kann lediglich zeigen, dass bestimmte kognitive Prozesse bestimmte Hirnprozesse hervorrufen. Die Neuropsychologie kann dagegen kausale Erklärungen für psychologische Funktionsverluste anbieten: Neuronale Prozesse sind eine notwendige Voraussetzung für Verhalten und Erleben. Nur eine zukünftige experimentelle Neuropsychologie (einschließlich Neuropharmakopsychologie) wird die Frage beantworten können, ob – wie viele Forscher vermuten – bestimmte Hirnprozesse auch die hinreichende Bedingung für die unbeobachtbaren, von der Psychologie postulierten kognitive Prozesse darstellen. In diesem Fall wären kognitive Prozesse (nicht Verhalten und Erleben!) und die zugehörigen neuronalen Prozesse identisch. Ein viel versprechender Ansatz hierzu wäre, Probanden mittels Echtzeit-fMRI-Feedback darin zu trainieren, bestimmte Hirnareale gezielt zu aktivieren oder zu deaktivieren und dann Effekte im Verhalten und Erleben zu untersuchen. Man könnte das Psychophysioneuropsychologie nennen – muss es aber nicht!

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