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Neurowissenschaften in Kürze

Wer bin ich? Habe ich einen freien Willen? Wie trifft das Gehirn Entscheidungen? Was geschieht beim Lernen? Wie bestimmen Hirnstrukturen und -prozesse unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle und unser Denken? Diesen und vielen anderen Fragen rund um den Zusammenhang von Gehirn und Geist sind Neurowissenschaftler auf der Spur.
Das Gehirn

Ganz allgemein untersuchen die Neurowissenschaften die Struktur und Funktion von Nervensystemen. Die Hirnforschung konzentriert sich im Speziellen auf die Erforschung des Zentralnervensystems von Mensch und Säugetieren. In den letzten Jahren hat sich die Hirnforschung zur Leitwissenschaft des frühen 21. Jahrhunderts aufgeschwungen und dabei neue Begriffe geprägt, von denen sich manche schon zu eigenen akademischen Disziplinen entwickelt haben: etwa Neuroinformatik, Neurophilosophie und Neuroethik.
"Einer der Gründe für diesen Hype der Neurowissenschaften ist das Interesse an den physischen und psychischen Grundlagen menschlicher Fähigkeiten. Sobald sich jemand Gedanken über sich selbst und seine Begabungen macht, wird er an die Basis geistiger Fähigkeiten verwiesen – und hier kommen die Neurowissenschaften ins Spiel", erklärt Michael Pauen, Professor für die Philosophie des Geistes an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Seit mehreren Jahren berichten die Medien zunehmend über Ergebnisse der Hirnforschung, die uns in den letzten zwei Jahrzehnten bahnbrechende Erkenntnisse über unser Gehirn und seine Funktionen geliefert hat. Zu verdanken ist diese Entwicklung unter anderem der Tatsache, dass unter dem Dach der Neurowissenschaften verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten, darunter Biologie, Medizin, Psychologie, Mathematik, Informatik und Ingenieur- sowie Sprachwissenschaften.
Saskia Nagel, Absolventin des Studiengangs "Cognitive Science" an der Universität Osnabrück, hat während ihres Studiums gelernt, die Methoden verschiedener Disziplinen zu verknüpfen, um sich der Lösung eines Problems zu nähern. "Im Studium erhält man ein gewisses Hintergrundwissen aus der Psychologie, Medizin und auch aus den Geistes-, Natur- und Ingenieurwissenschaften. Das gilt nicht nur für die fachlichen Inhalte sondern gerade auch für die fachspezifischen Methoden. Dieser fächerübergreifende Ansatz ist typisch für die Neurowissenschaften."
Hirnforschung ist also eine gemeinsame Anstrengung vieler Disziplinen, die vielfältigen komplexen menschlichen Funktionen – Wahrnehmen, Denken, Entscheiden, Empfinden – auf die Aktivität von rund eineinhalb Kilogramm Gehirngewebe zurückzuführen. Hirnforscher versuchen dabei nicht nur die Funktionsweise des Gehirns als Organ zu verstehen, sondern auch, wie die neuronalen mit den geistigen Prozessen verknüpft sind. Wie verarbeiten, bewerten und speichern die neuronalen Schaltkreise Informationen?
Das Gehirn

Wahrscheinlich gibt es im ganzen Universum nichts, was so komplex organisiert ist wie das menschliche Gehirn. Es besteht aus rund einhundert Milliarden Nervenzellen, den Neuronen. Diese bilden die Grundbausteine und Funktionseinheiten des Nervensystems. Schätzungsweise kommunizieren die Neuronen untereinander über 100 Billionen Synapsen: den Verbindungsstellen, über die Informationen von Nervenzelle zu Nervenzelle übertragen werden. Dieses gewaltige informationsverarbeitende Netzwerk bestimmt nicht nur unsere Wahrnehmung der äußeren Welt, sondern auch, wie wir uns selbst sehen. Alles, was wir erleben, wird durch neuronale Zustände im Gehirn repräsentiert.


Forschungsmethoden Neben der interdisziplinären Ausrichtung verdanken die Neurowissenschaften ihre großen Fortschritte der vergangenen Jahre vor allem zwei Entwicklungen: zum einen dem zunehmend präzisen Wissen um molekularbiologische Vorgänge im Gehirn, zum anderen den modernen bildgebenden Verfahren. Letztere registrieren, wie aktiv bestimmte Teile des Gehirns sind. Auf den Abbildungen, die sich aus den Messungen errechnen lassen, leuchten die entsprechenden Hirnregionen bunt auf. So entsteht geradezu der Eindruck, man könne das lebende Gehirn beim Denken beobachten. Hirnforscher nutzen diese Methode, um grundlegende Funktionen wie Bewegungssteuerung, Aufmerksamkeit, Sprache oder auch Emotionen zu untersuchen. Sie können beispielsweise nachweisen, ob jemand sich gerade aufregt oder ob er sich Bilder vorstellt.
Zwar sind Neurowissenschaftler noch weit davon entfernt, psychiatrische Erkrankungen per Hirnscan zu diagnostizieren, doch die Neurowissenschaften eröffnen auf diesem Gebiet viel versprechende Ansätze für Diagnose und Therapie. "Wenn man neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer-Demenz oder die Parkinson-Krankheit betrachtet, die infolge mit der demographischen Entwicklung immer häufiger auftreten, dann sind Fortschritte in der Hirnforschung für die Therapie dringend erforderlich", erklärt Hannsjörg Schröder, Koordinator des Studiengangs "Neurowissenschaften" an der Universität zu Köln.
Die Fortschritte gerade in der klinischen Diagnostik wären ohne die moderne Informatik nicht denkbar. Daher legen Neurowissenschaftler einen besonderen Schwerpunkt auf die Entwicklung von Synergien mit den Informationstechnologien ("Computational Neuroscience"). Inzwischen ist es sogar möglich, einen Computer über gedachte Befehle zu steuern: Sensoren messen die Hirntätigkeit eines Probanden, der sich eine bestimmte Bewegung vorstellt. Sie wird in einen Impuls umgesetzt, der beispielsweise einen Cursor auf dem Monitor bewegt oder Geräte steuert. Diese Technik soll eines Tages schwerstbehinderten Menschen die Möglichkeit geben, allein kraft ihrer Gedanken mit ihrer Umwelt zu kommunizieren.

Visionen Gerade in den Medien schäumen die Zukunftsvisionen oft über. In Wirklichkeit könnte es zwar in Zukunft beispielsweise durchaus möglich sein, Gedanken und Gefühle per Hirnscan zu entschlüsseln, doch ist damit die Art und Weise, in der wir Dinge wahrnehmen oder empfinden, längst nicht vollständig zu erklären.
Je genauer die Forscher die Funktionsweise des Gehirns kennen, desto vielfältiger können sie auch auf diese einwirken. Das gilt in erster Linie für Hirnerkrankungen oder -traumata. Aber auch für gesunde Menschen gibt es in Zukunft vielleicht eine Reihe von neurowissenschaftlich entwickelten Hilfsmitteln bis hin zu Hirnprothesen, die das tägliche Leben erleichtern könnten. Es ist jedoch schwierig vorauszusagen, welche Rolle die Wissenschaft in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren in den verschiedenen Lebensbereichen spielen wird. Ein allumfassendes Verständnis des menschlichen Geistes jedenfalls wirkt heute utopisch, angesichts der ungeheuren Komplexität des Gehirns, die durch die Forschungen der letzten Jahre erst richtig zu Tage getreten ist. Aber es sind gerade solche Zukunftsträume, welche die Hirnforschung zu dem vielleicht spannendsten Forschungsgebiet der Gegenwart machen.

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