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Welche Chancen und Grenzen haben Tierexperimente?

Die Nützlichkeit von Tierexperimenten ist umstritten. Insbesondere, wenn es um Hirnforschung geht, gibt es seit jeher Zweifel, ob der Mensch tatsächlich mit einem Affen oder gar mit einer Maus verglichen werden kann. Henning Scheich ist überzeugt, dass Tierexperimente für die Forschung nicht nur nützlich, sondern sogar unerlässlich sind.
Henning Scheich
Henning Scheich studierte Medizin und Philosophie in Köln, Montpellier und München. Von 1967 bis 1969 war er Assistent am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Bis 1972 forschte er an der University of California in San Diego und war danach Arbeitsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen. Zwischen 1975 und 1994 war der renommierte Forscher am Lehrstuhl für Zoologie an der Technischen Hochschule Darmstadt tätig. Weitere zahlreiche Forschungsaufträge führten ihn nach Puerto Rico, Amazonien, Zentralafrika, Australien und Thailand.

1992 gründete er das Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg, dessen Direktor er bis heute ist. Seine Hauptforschungsgebiete sind Akustik, Lernen und Sprache.


Mit welchen Tieren arbeiten Sie, um Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns zu erlangen?

Ich halte mich, um auch bestimmte Schlüsse auf den Menschen ziehen zu können, in den letzten 15 Jahren an Säugetiere. Früher habe ich auch an Vögeln gearbeitet und sogar an Fischen. Daher kenne ich mich gut in vergleichender Neuroanatomie aus. Ich und meine Mitarbeiter im Institut sind spezialisiert auf Lernen und Gedächtnis. Wir beschäftigen uns insbesondere mit Tieren, mit denen man sehr gut Lernexperimente machen kann. Das sind vor allem mongolische Rennmäuse, extrem clevere Kerlchen, die akustisch noch besser lernen als Mäuse, Ratten oder Affen.

Was sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Mäusegehirn und dem menschlichen?

Der grundsätzliche anatomische Aufbau ist derselbe. Wenn man sich die Details anguckt, etwa die einzelnen Netzwerke von Neuronen, dann kann nur ein Experte sagen: Das ist eine Maus, und das ist ein Mensch. Der wesentliche Unterschied ist die Gesamtgröße: Die Menge von Substrat, also von Neuronen, ist beim menschlichen Gehirn viel größer. Es gibt sozusagen einen Quantensprung ab einer bestimmten Größe, wo die intelligente Informationsverarbeitung durch Verstehen beginnt, die kleinere Netze eben nicht leisten können. Wir haben also nicht nur einen quantitativen, sondern auch einen qualitativen Unterschied.

Können Sie einmal eines Ihrer Experimente beschreiben?

Experimente, die wir sowohl bei Rennmäusen wie auch bei Affen machen, sind Kategorisierungsexperimente einer bestimmten Art, beispielsweise im Sinne von Sequenzkategorien.
Ein entsprechendes Experiment sieht beispielsweise so aus, dass wir Tieren Tonsequenzen vorspielen und ihnen gleichzeitig gewisse Motivationsansätze bieten. Über so ein Feedback bringen wir die Tiere dazu, Melodien wiederzuerkennen und sogar zu erkennen, ob innerhalb so einer Sequenz Sprünge zu tieferen oder höheren Frequenzen vorkommen. Und wenn die Tiere diese Unterschiede entdecken, werden sie dafür belohnt.
Wir können nun anhand der Entladung von Neuronen als Funktion der Reizvariation und auch als Funktion des Verhaltens der Affen, wie sie das Problem lösen, sehen, wie die Information verarbeitet wird und auch wie die Gedächtnisprozesse ablaufen. In dem Gesamtkontext solcher Experimente, die wiederholt werden, bis wir sehr viele Neurone abgeleitet und sehr viele Informationen gesammelt haben, können wir dann schließen, wie der Affe die gestellten Aufgaben bearbeitet und kognitive Schlüsse zieht. Und da sind wir sozusagen auf der mechanistischen Ebene.

Wie aufschlussreich sind Ergebnisse aus Tierexperimenten bezüglich ihrer Übertragbarkeit auf das menschliche Gehirn?

Ganz wichtig ist: Affengehirne sind keine kleinen Menschengehirne. Sie sind zwar in den Grundprinzipien ganz nah am Menschen, aber doch einfacher konstruiert. Interessanterweise beobachten wir bei Menschen, wenn sie Aufgaben lösen, an den gleichen Stellen des Gehirns die gleichen Aktivitäten wie beim Affen. So weit geht das.
Ich würde nicht sagen, dass wir immer von der Maus auf den Menschen schließen können. Grundprinzipien der Verarbeitung sind zwar gleich, aber nicht an denselben Stellen und nicht in der gleichen Fülle. Vom Affen auf den Menschen ist die Übertragbarkeit viel direkter. Wir müssen immer vorsichtig sein bezüglich der Übertragung verschiedenster Ergebnisse. Aber auf Dinge, die so basal sind, dass sie sich von Maus bis Mensch durchverfolgen lassen ohne große Veränderungen in den Systemen, kann man sich verlassen. Dazu gehören beispielsweise viele dieser Motivationsmechanismen, wie Lernen durch Erfolg oder Misserfolg, die denen der Maus entsprechen. Aber im Sinne von kognitiver Verarbeitung sind da eben große Unterschiede, und man muss immer abwägen, was man übertragen und auch überprüfen kann.

Warum genügt es nicht, sich alternativ auf bildgebende Verfahren als Ersatz für Tierexperimente zu beschränken?

Die bildgebenden Verfahren sind keine Techniken, die einen wirklichen Einblick in die neuronalen Mechanismen geben. Was die Neuronen tun, können wir nicht sehen. Wir erkennen nur, dass sie aktiv sind. Das heißt, wie sie Informationen austauschen, wie sie sozusagen bestimmte Dinge bewerten durch Entladungserhöhung oder Entladungserniedrigung, bleibt uns verborgen. Die modernen Bildgebungsverfahren haben aber noch zusätzlich neue Aktivitäten ans Tageslicht gefördert. Da tauchen jetzt plötzlich in ganz bestimmten Kontextaufgaben Aktivitäten auf, und die Forscher wollen natürlich wissen, was dahinter steckt. Also werden in Zukunft noch mehr Tierexperimente benötigt, weil wir jetzt beim Menschen durch diese Techniken überhaupt erst mögliche Problemlösungen im Gehirn vermuten können, von deren Vorhandensein wir vorher gar keine Ahnung hatten.

Wird man also mit Hilfe neuer Methoden von Tierexperimenten in Zukunft noch genauere Erkenntnisse über das menschliche Gehirn erlangen können?

Ja, an unserem Institut wurde vor Kurzem eine erfolgversprechende neue Methode entwickelt, die bereits international als Goldschmidt-Methode anerkannt ist. Die Idee ist, dass wir, statt nur einzelne Neuronengruppen zu beobachten, lieber in ein Netzwerk hinein sehen würden. Uns interessiert die Zusammenarbeit benachbarter Neurone, gewissermaßen die Simultanbetrachtung. Dies ist nun möglich, da wir die gleichzeitigen Aktivitäten aller Neuronen sichtbar machen können.


Das Interview führten Nora Olbrisch und Hans Puchowka, Studenten des BA-Studiengangs Philosophie-Neurowissenschaften-Kognition an der Universität Magdeburg.

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