Recht: Manipulierbare Justitia: Richterliche Urteile sind nicht immer so objektiv und unbeeinflusst, wie sie sein sollten
Sitzt ein Richter beispielsweise müde und hungrig an seinem Pult, fallen seine Urteile härter aus, wie 2011 eine israelische Studie zeigte. Die Forscher hatten dazu mehr als 1000 Richtersprüche zu Bewährungsanträgen untersucht. Ergebnis: Zu Arbeitsbeginn und direkt nach den Pausen sprachen sich rund 65 Prozent der Juristen zu Gunsten der Täter aus. Kurz vor der Pause hatten dagegen fast alle das Nachsehen. Die Forscher vermuten, dass der Effekt der mentalen Ermüdung geschuldet ist. Wenn die Ressourcen der Richter erschöpft sind, würden sie sich für die einfachste Option entscheiden – den Bewährungsantrag abzulehnen. Zahlreiche Studien belegen auch den so genannten Ankereffekt. Hier lehnt der Richter seine Entscheidung über Strafmaß, Schadenersatz oder Schmerzensgeld an die von der Staatsanwaltschaft genannten Forderung an. Das Phänomen beruht auf einer gedanklichen "Abkürzung" bei einem Entscheidungsprozess: Informationen, die mit der vorgegebenen Zahl übereinstimmen, sind für uns im Gedächtnis leichter zugänglich.
Eine Arbeitsgruppe um Englich testete den Effekt in mehreren eigenen Simulationsstudien. Demnach orientierten sowohl unerfahrene Referendare als auch Juristen mit durchschnittlich mehr als zehn Jahren Berufspraxis ihr Urteil an einer zuvor genannten Forderung, und zwar selbst dann, wenn diese von einem Zwischenrufer im Publikum stammte. Im Rahmen eines Experiments sollten die Richter die fiktive Forderung eines Staatsanwalts schließlich sogar selbst "erwürfeln". Ergaben die zwei (gezinkten) Würfel in der Summe die Zahl 3, fiel die Haftstrafe für eine Ladendiebin im Schnitt 2,5 Monate kürzer aus, als wenn sie zusammen eine 9 ergaben.
Richter können sich vor derartigen Einflüssen jedoch schützen, indem sie die verzerrte Informationsverarbeitung ausgleichen. Zu diesem Zweck müssen sie die urteilsverzerrenden Einflüsse kennen und bewusst Informationen generieren, die zum Beispiel einem vorliegenden Anker widersprechen. Diese aufwändige Strategie wird in der Fachliteratur als "considering the opposite" bezeichnet – zu Deutsch in etwa: das Gegenteil in Erwägung ziehen. Das ist deshalb vorteilhaft, weil eigenständig generierte Informationen besonders gut verarbeitet werden.
Abdruck honorarfrei bei Quellenangabe: Gehirn&Geist, März 2012
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