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Der Netzwerkmensch

Am 30. Januar 1962 brechen drei junge Mädchen in unkontrolliertes Gelächter aus. Kein ungewöhnlicher Vorfall auf dem Internat in Tansania. Aber der Lachzwang greift über: Acht Wochen später sind bereits drei Viertel der Schülerinnen von den Lachanfällen betroffen, was zur Schließung der Schule führt. Die Symptome der Krankheit übertragen sich jedoch weiter auf die Heimatdörfer der Mädchen. Die zur Studie dieser Lachepidemie angereisten Wissenschaftler vermerken in ihren Berichten trocken: "Glücklicherweise waren keine Todesfälle zu verzeichnen."

Anhand dieser wahren Begebenheit zeigen Nicholas A. Christakis, Mediziner und Soziologe an der Harvard University, und sein Kollege James H. Fowler, Politikwissenschaftler an der University of California in San Diego, dass sich Informationen und Gefühle auf dieselbe Weise über soziale Netze verbreiten wie ansteckende Krankheiten. Das gelte nicht nur für Lachanfälle, sondern auch für die Neigung zum Übergewicht oder gar zum Selbstmord. Dem Einfluss der zwischenmenschlichen Geflechte kann sich überdies niemand entziehen – doch profitieren Menschen auch von diesen Verbindungen, etwa bei politischen Wahlen, der Partnersuche und auf dem Karriereweg.

In ihrem Buch analysieren die Autoren eine große Anzahl von Daten über derartige Beziehungsnetze, von amerikanischen Highschools über ganze Kleinstädte bis zu dem gigantischen Onlinenetz "Facebook". Die kolossale Informationsmenge ist eine Stärke des Buchs – verleitet die Wissenschaftler jedoch auch zu der einen oder anderen Übertreibung. Beispielsweise proklamieren sie das "Gesetz der drei Schritte": Jeder von uns hat einen Einfluss auf durchschnittlich 20 "Freunde" (unter dieser Bezeichnung fassen die Autoren Familienangehörige, Freunde und Kollegen zusammen). Über seine 20 Freunde hinaus übt ein Mensch einen indirekten Einfluss auf deren 400 Freunde aus, und in der dritten Stufe beeinflusst angeblich jeder mit seinem Handeln und seiner Lebensweise 8000 Personen. Ob es nun genau drei Schritte sein müssen, wage ich zu bezweifeln. Und das simple Rechenbeispiel berücksichtigt nicht, dass unter den Freunden meiner Freunde die meisten auch miteinander bekannt sind. Aber die Vorstellung ist aufregend und erschreckend zugleich: Nicht nur ich übe Einfluss auf eine große Anzahl von unbekannten Menschen aus – ich selbst bin diesem ebenso ausgesetzt.

In der Tat ist das globale soziale Netz dichter geknüpft, als man denkt. "Die Welt ist ein Dorf": Ich treffe im letzten Sommerurlaub am anderen Ende der Welt einen Fremden, der mit einem Schulfreund aus der Heimat bekannt ist. Christakis und Fowler bestätigen durch ihre Studien die alte Weisheit, dass das kein Einzelfall ist: Jeder Mensch ist mit jedem anderen über durchschnittlich sechs Schritte verbunden.

Sehr interessant liest sich im weiteren Verlauf, wie Partnersuche in Zeiten der globalen Vernetztheit stattfindet, auf welche Weise eine Finanzkrise durch die über das Netz vermittelte Panik noch verschlimmert wird und wie ein Suizid eine Welle von Nachahmungstaten anregt. Der Abschnitt, in dem die Autoren die Beziehungsgeflechte amerikanischer Politiker aufdröseln, liest sich etwas mühsam, da die zahlreichen Namen beim europäischen Leser keinen Aha-Effekt hervorrufen. Aufschlussreich, jedoch nicht zur Gänze neu, beschreiben die Autoren aber, wie soziale Netze Massen von Menschen mobilisieren. So wirke ein Gang zur Wahlurne über die schlichte Stimmabgabe hinaus als Ansporn auf bis zu 100 andere Wähler.

»Warum Glück ansteckend wirkt« ist das einzige Kapitel, in dem es um das auf dem Buchtitel angepriesene Glücksversprechen geht. Aus ihrer Studie über 12 000 Einwohner eines amerikanischen Orts ziehen Christakis und Fowler den Schluss, dass das Wonnegefühl glücklicher Menschen abfärbe und man sich deshalb in ihrer räumlichen Umgebung aufhalten solle, und zwar in einem Radius von eineinhalb Kilometern. Glückliche Freunde machen uns demnach um 15 Prozent glücklicher. Die Freunde unserer Freunde liefern immerhin noch einen Glückszuwachs von zehn Prozent, und das Glück eines Freundes des Freundes unseres Freundes hat noch einen Einfluss von sechs Prozent auf uns – das "Gesetz der drei Schritte" lässt grüßen. So versetzt uns das Glück eines unbekannten Menschen in einen freudigereren Zustand als ein zusätzliches Jahreseinkommen von 10 000 Dollar, das, so die Autoren, nur eine Glückssteigerung von zwei Prozent ausmacht. Da drängt sich die Frage auf, wie die Forscher das Glück der einzelnen Probanden gemessen haben wollen. Bin ich von einem geselligen Sonntagsfrühstück mit einem glücklichen Freund 15 Prozent glücklicher nach Hause gekommen? Und wenn ja, wie habe ich das bemerkt? Wie ist mein Maßstab für Glück mit dem anderer Menschen vergleichbar?

Sehr viel glücklicher gelingt den Autoren dann kurz vor Schluss noch die Geburt eines neuen Menschentyps, auch wenn sie mit zwei Seiten zu kurz ausfällt. Dem bekannten "Homo oeconomicus ", dem selbstsüchtigen, gewinnorientierten, autonomen Menschen der Wirtschaftswissenschaftler, stellen sie den "Homo dictyous" gegenüber, den Netzwerkmenschen, nach dem lateinischen Wort homo für Mensch und dem griechischen diktyon für Netzwerk. Menschen handeln nach Ansicht der Autoren viel öfter im Interesse ihres sozialen Netzwerks als nur in ihrem eigenen. Damit verändern sie das Leben anderer – mit einem Ergebnis, das der klassischen Wettbewerbstheorie widerspricht. Beispielsweise wenn die Leute "aufgrund der menschlichen Tendenz, das zu wollen, was andere wollen, und die Entscheidung anderer als Orientierungshilfe zu verstehen ", ihre Entscheidungen nicht mehr unabhängig voneinander treffen.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass jeder Einzelne nicht so frei über sein Leben entscheidet, wie er annimmt, wenn er dem ständigen Einfluss seines sozialen Netzes ausgesetzt ist. Während die Abhandlung über die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten im ersten Teil des Buchs überlang geraten ist, knausern Christakis und Fowler am Ende leider bei der Aufarbeitung dieser zentralen These. Ihnen geht es eher um die Prozesse, die in sozialen Netzen ablaufen. So wollen sie zur Lösung gesellschaftlicher Probleme wie Infektionskrankheiten, Armut, Trink- und Spielsucht beitragen, indem sie die Zentren der Ausbreitung ausfindig machen.

Da die Themen kaum aufeinander aufbauen, gestaltet sich das Buch nicht zur fesselnden Lektüre. Man erfährt jedoch eine Menge über die Vorgehensweise bei soziologischen Studien. Insgesamt bietet "Connected" in neun Kapiteln einen bunten Blumenstrauß an Netzwerkanalysen: vom Wahlkampf des Barack Obama über die virtuelle Welt des Internet-Rollenspiels "World of Warcraft" bis zurück zum Mädcheninternat in Tansania.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 7/2011

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