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Die Macht über unsere Gene

Schwangere Frauen können sich kaum vor gut gemeinten Ratschlägen retten. Schließlich wirkt sich alles, was sie tun und lassen, auf das Kind aus – und wenn sich die Thesen der Epigenetik bewahrheiten, auch auf die Enkel und Urenkel.

Epigenetik ist die Wissenschaft von der Vererbung "neben" der DNA. Unsere Umwelt, Nahrung, Stress, Liebe, Erfahrungen – das alles hinterlässt Spuren in unseren Zellen, oder anschaulicher: Diese Ereignisse knipsen Schalter. Dadurch werden Gene anoder ausgeschaltet und damit Hormonhaushalt, Stoffwechsel oder auch Krankheiten beeinflusst – vereinfacht gesagt.

Vereinfachen, das ist das große Talent des Neurobiologen und Wissenschaftsjournalisten Peter Spork. Der Autor erklärt auf diese Weise Epigenetik, die zu Grunde liegenden Mechanismen im Körper, unzählige Forschungsbeispiele und die Folgen für Wissenschaftler und unseren Lebensstil. "Die wichtigste Botschaft [...] lautet: Fühlen Sie sich nicht als Marionetten Ihrer Gene."

Neben der DNA gibt es einen zweiten genetischen Kode, das Epigenom (Spektrum der Wissenschaft 2/2004, S. 68, und 3/ 2004, S. 68). Spork veranschaulicht es: "Erbgut und Proteine funktionieren wie eine riesige Bibliothek: Die DNA enthält dabei die Texte, während die epigenetischen Strukturen die Bibliothekare, Ordner und Register sind, die die Information verwalten und sortieren."

Das tun sie zum einen durch Methylierung. Dabei hängt sich eine Methyl(CH3)-Gruppe an eine Base im DNA-Kode und verhindert, dass der zugehörige Text abgelesen und damit ein bestimmtes Protein produziert wird. Einen zweiten Mechanismus, die Histonmodifikation, vergleicht der Autor mit dem Aufwickeln auf eine Kabeltrommel. Die DNA wickelt sich um Pakete aus acht Eiweißen, den Histonen. Diese Pakete, die Nukleosomen, werden durch den Einfluss weiterer Proteine mehr oder weniger eng geschnürt, wodurch die Gene mehr oder weniger schwer abzulesen sind. Die dritte Eingriffsmöglichkeit der winzigen Bibliothekare ist die RNA-Interferenz. Die Boten- RNA, die eigentlich schon auf dem Weg ist, die Produktion eines Proteins auszulösen, wird nachträglich abgefangen und zerstört, und zwar durch die Wirkung von Mikro-RNA, Bruchstücken von DNA-Kopien, die man bis vor einigen Jahren für ein Abfallprodukt gehalten hat (Spektrum der Wissenschaft Dossier 1/2006 "Das neue Genom", S. 42).

Methylierung, Histonmodifikation und RNA-Interferenz werden nicht nur durch einen autonom ablaufenden Prozess im Zellkern gesteuert, sondern durch unser Leben: durch Ernährung, Bewegung, Rauchen, Stress, Emotionen, wie Peter Spork mit vielen Forschungsergebnissen und Gesprächen mit hochkarätigen Wissenschaftlern – mal besser, mal schlechter – belegt. Wir selbst sind in der Lage, durch unser eigenes Verhalten die Schalter für ein langes Leben ohne physische oder psychische Krankheiten zu stellen. Aber nicht nur das: Auch unsere Eltern, Groß- oder sogar Urgroßeltern haben durch ihre Lebensweise manche für uns maßgeblichen Schalter betätigt.

Ratten, die von ihrer Mutter zu wenig umsorgt wurden, Kinder, die misshandelt wurden, oder auch Kriegsveteranen und Zeugen von Terroranschlägen entwickeln oft epigenetische Störungen im Gehirn, in den Zentren für Gedächtnis, Angst und Stress, und tragen entsprechende Schäden davon. Der Stoffwechsel – und damit das Risiko für Diabetes oder Übergewicht – kann schon durch die Ernährung und das Rauchverhalten der Großmutter mütterlicherseits während ihrer Schwangerschaft oder des Vaters während seiner Pubertät festgelegt werden. Die Schalter werden auf die sich entwickelnden Keimzellen übertragen, die später bei der Zeugung verschmelzen.

Auch das Altern könnte man als epigenetische Krankheit auffassen, wie Studien an "Superalten" zeigen: Forscher fanden verschiedene Gene, Proteine und Enzyme, die Zellen und somit den Menschen jung halten. Die Produktion dieser Stoffe hängt wieder damit zusammen, ob die entsprechenden Gene mit den Bauplänen aktiviert sind oder nicht. Am meisten wird von der Ernährung erwartet: Grüner Tee, Kurkuma und Sojaprodukte aller Art sind laut manchen Forschungsergebnissen wahre Jungbrunnen.

Mit dem Ausruf "Revolution!" beginnt das Buch; und das könnte die Epigenetik tatsächlich auslösen, sofern sich denn die damit verknüpften Hoffnungen bewahrheiten, beispielsweise im Kampf gegen Krebs. »Die Zellen werden bösartig, weil biochemische Schalter dauerhaft "böse" Gene anoder "gute" Gene ausschalten." Dann müsste es doch möglich sein, genetische Mutationen durch Veränderungen des "zweiten Codes" rückgängig zu machen. Von Anwendungen auf einem breiten Markt wagen jedoch nicht einmal die optimistischsten Vertreter dieser jungen Wissenschaft zu sprechen.

Der Rat zu gesunder Ernährung, ausreichend Sport, wenig Stress, nicht Rauchen ist wahrlich nichts Neues. Aber wenn so anschaulich dargestellt wird, was einzelne, scheinbar bedeutungslose Entscheidungen in den Zellen auslösen können, welche Schalter umgelegt werden, und das nicht nur bei uns, sondern auch unseren Nachkommen – dann verleiht das bisherigen Erkenntnissen doch noch einmal ein anderes Gewicht.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 05/2010

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