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Ist Gesundheitsvorsorge immer sinnvoll?

Werner Bartens, bekannt geworden durch seinen Bestseller "Ärztehasserbuch", hat nach seinem Studium der Medizin, Geschichte und Germanistik an Universitätskliniken und in der medizinischen Forschung gearbeitet. Seit 1997 ist er als Journalist und Buchautor tätig, seit 2008 leitet er das Wissenschaftsressort der "Süddeutschen Zeitung". Als begehrter Gesprächspartner zum Thema Gesundheitssystem tritt er in zahlreichen Talkshows auf.

Bartens ist ein überzeugter Vertreter der "evidenzbasierten Medizin", die nur solche Therapieverfahren anerkennt, deren Nutzen in kontrollierten, klinischen Studien eindeutig nachgewiesen wurde. Für die medizinische Vorsorge bedeutet das: Nur solche Maßnahmen oder Früherkennungsuntersuchungen sind sinnvoll, die dem Patienten nachweislich ein gesünderes und längeres Leben bringen. Gerade das sei aber häufig nicht der Fall. Im Gegenteil: Die frühere Diagnose tue oft nichts weiter, als die Sorgen "vor-"zuverlegen, den Patienten also früher krank zu machen. Dies lässt sich für das PSA-Screening (eine Blutuntersuchung) zur Früherkennung von Prostatakrebs in der Tat nachweisen. Gleichermaßen zweifelt Bartens an dem Nutzen von flächendeckenden Mammografien zur Früherkennung von Brustkrebs.

Der Autor will mit seinen Darlegungen nicht generell jegliche Vorsorge verteufeln, sondern erreichen, dass Ärzte ihre Patienten über den Nutzen und die Risiken besser aufklären. Der Patient muss wissen, dass ein falsch negativer Befund (Diagnose gesund, obwohl Patient krank) ihn in trügerischer Sicherheit wiegen und ein falsch positiver Befund (Diagnose krank, obwohl Patient gesund) zu unnötigen invasiven Diagnose- und Therapiemaßnahmen führen kann. Nur so kann der Patient entscheiden, ob er die Früherkennungsuntersuchung durchführen lassen will.

Das ist sicher nicht zu beanstanden. Gleichwohl wird es einem niedergelassenen Arzt schwerfallen, dem einzelnen Menschen, der ihm gegenübersitzt, von einer Vorsorgeuntersuchung abzuraten, die vielleicht sein Leben um Jahre verlängert.

Bartens nennt das ein Geschäft mit der Angst. Anstatt primär davon auszugehen, dass ein symptomloser Mensch schlicht gesund sei, sähen Vorsorgefanatiker nur ein unvollkommenes, potenziell krankes Wesen, das dauernder Überprüfung und Bearbeitung bedürfe. Nicht zuletzt auf das Betreiben der Pharmaindustrie hin werde dieses Bild in der Öffentlichkeit aufrechterhalten.

Was die medikamentöse Prophylaxe von Herzinfarkt oder Wechseljahresbeschwerden angeht, kann der Autor einen Punkt für die evidenzbasierte Medizin verbuchen. Erhöhte Blutfettwerte sind ein Risiko für den Herzinfarkt. Deren aggressive Senkung durch Medikamente ("Lipidsenker") mindert bei den behandelten Patienten zwar die Gefäßveränderungen, nicht aber das Auftreten von Herzinfarkten oder Angina-pectoris-Anfällen. Die vorbeugende Hormonersatztherapie der Frau in den Wechseljahren lindert zwar Beschwerden wie Hitzewallungen oder Stimmungsschwankungen, führt aber nachweislich zu einem Anstieg von Gefäßerkrankungen und Brustkrebs.

Tücken der evidenzbasierten Medizin

Neben der Krebsvorsorge und den genannten prophylaktischen Bemühungen nimmt der Autor auch viele als präventive Maßnahmen dargestellte Verhaltensweisen unter die Lupe: Sport, Wellness, Diäten, Idealgewicht, Vitamine, Entschlackungskuren. Bartens erklärt das alles für medizinisch unsinnig und beruft sich dabei auf Ergebnisse wissenschaftlicher Studien. Schade nur, dass es kein Literaturverzeichnis gibt, anhand dessen man sich ein eigenes Bild machen könnte.

Ansatz und Beweggründe der evidenzbasierten Medizin sind ja eigentlich richtig. Aber so wie sie praktiziert wird, lässt sie das Psychische als medizinisch wirksamen und nutzbaren Faktor völlig außer Acht. Sie will sich frei machen von jeglichem "Hokuspokus". Forschungsergebnisse in der Psychoneurobiologie und -immunologie zeigen aber eindeutig, dass die Psyche auf den Gehirnstoffwechsel und die Abwehrlage des Organismus einwirken und damit den gesamten Körper beeinflussen kann. Es gibt Studien, die erkennen lassen, dass der Heilungserfolg oftmals nicht ganz ohne "Hokuspokus" abläuft.

Warum geht eigentlich der Autor davon aus, dass die Gesundheit eines Menschen durch einen falsch positiven Befund negativ, nicht aber durch den viel häufigeren richtig negativen Befund (Diagnose gesund, Patient gesund) positiv beeinflusst wird? Es gibt keine Studien, die untersuchen, welchen Nutzen solche im üblichen Sinn positiven Befunde für die Gesundheit des Menschen haben.

Nach den geltenden Kriterien wäre aber auch ein korrektes Studiendesign gar nicht möglich, da es zu viele Störfaktoren gäbe, welche die Ergebnisse beeinflussen könnten. Kaum einer würde das Risiko eingehen wollen, viel Geld für groß angelegte, kontrollierte, randomisierte Doppelblindstudien auszugeben, wenn die Ergebnisse nachher anfechtbar wären. Die Interpretation solcher Studienergebnisse und die Schlussfolgerungen daraus können im Übrigen selbst unter Wissenschaftlern sehr unterschiedlich ausfallen.

Durch die evidenzbasierte Medizin und ihre Leitlinien wird jede Individualität in der Arzt-Patient-Beziehung wegrationalisiert. Merkwürdigerweise erklärt der Autor in seinen anderen Büchern genau diese Beziehung für dringend verbesserungsbedürftig, ein Anliegen, das er selbst durch sein neues Werk konterkariert.

Dem Buch ist deutlich anzumerken, dass es aus mehreren bereits veröffentlichten Artikeln zusammengeschustert wurde. Bestimmte Thesen werden gebetsmühlenartig wiederholt. Uninteressant ist es dennoch nicht, es lässt sich gut lesen und regt durchaus zum Nachdenken an. Ein echtes Manko ist der fehlende Literaturnachweis, denn hier und da möchte man sich als interessierter Leser gerne eingehender informieren. Wer sich auf so viele wissenschaftliche Studien beruft, sollte seine Quellen auch nachvollziehbar angeben.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 12/2009

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