Direkt zum Inhalt
Login erforderlich
Dieser Artikel ist Abonnenten mit Zugriffsrechten für diese Ausgabe frei zugänglich.

Willensfreiheit: Eine Frage der Selbstbestimmung

Willensfreiheit ist die Fähigkeit, ohne Zwang zwischen verschiedenen Möglichkeiten auszuwählen. Doch wie frei sind unsere Entscheidungen wirklich? Ist Willensfreiheit vielleicht nur eine Illusion?
Eine künstlerische Darstellung eines menschlichen Kopfes, der in einen Vogelkäfig verwandelt ist. Der Käfig ist oben geöffnet, und ein weißer Vogel fliegt heraus. Der Hintergrund ist in sanften Blautönen gehalten, was eine ruhige und nachdenkliche Atmosphäre schafft. Das Bild symbolisiert Freiheit und Entfaltung des Geistes.

Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Wege, sich dem Problem der Willensfreiheit zu nähern. Im einen Fall geht man davon aus, dass es sich hierbei um ein fundamentales metaphysisches Problem handelt, dessen Lösung davon abhängt, wie unsere Welt beschaffen ist – zum Beispiel ob es Lücken im Kausalzusammenhang gibt.

Die andere, wesentlich moderatere Sichtweise nimmt an, dass es offensichtliche Unterschiede bei der Zurechenbarkeit von Handlungen gibt: Kleine Kinder und psychisch Kranke sind offenbar in einem wesentlich geringeren Maß verantwortlich für ihr Tun als gesunde Erwachsene. Hier stellt sich dann die Frage, ob diese Unterscheidung gerechtfertigt ist und worin sie genau besteht.

Der erste Ansatz unterstellt, dass Freiheit davon abhängt, ob menschliches Handeln durch die Natur oder durch das handelnde Ich bestimmt wird. Letzteres sei nur möglich, wenn es Lücken im naturgesetzlichen Kausalzusammenhang gibt, die das »Ich« dann ausnutzen kann, um die Dinge in seinem Sinn zu lenken – etwa indem es neuronale Prozesse im Gehirn beeinflusst. In der philosophischen Tradition wird diese Auffassung oft Kant zugeschrieben; systematisch ausformuliert worden ist sie unter anderem von dem amerikanischen Philosophen Roderick Chisholm, der in diesem Zusammenhang den Begriff der Akteurskausalität entwickelt hat.

Ein solches Verständnis von Freiheit stößt auf vielfältige Kritik, vor allem von Seiten der Naturwissenschaften. Zum einen ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir tatsächlich in einer Welt mit solchen Kausallücken leben. So haben Hirnforscher gegen die Vorstellung eines autonomen Ichs, das Vorgänge im Gehirn völlig selbstständig beeinflusst, immer wieder gut begründete Einwände erhoben. Außerdem wäre ein solches Verständnis von Freiheit ungeeignet, die offensichtlichen Unterschiede in den Freiheitsspielräumen etwa von gesunden Erwachsenen einerseits und psychisch oder physisch Abhängigen andererseits zu erklären – es spricht ja wenig dafür, dass man durch eine psychische oder physische Abhängigkeit sein Ich oder seine Seele verlieren würde.

Wenn Normen verletzt werden, müssen wir uns fragen, ob jemand dafür verantwortlich ist

Doch selbst wenn alle Voraussetzungen erfüllt wären, bliebe nach dieser ersten Sicht weiterhin unklar, was damit erreicht wäre. Ein den Naturgesetzen gegenüber autonomes Ich oder gar eine immaterielle Seele, was auch immer man sich darunter vorstellen mag, wirft die Frage auf, woher sie kommt und wie ihre Wünsche und Überzeugungen eigentlich entstanden sind. Lassen sich diese auf äußere Umstände, etwa auf Umwelt, Anlagen oder gar einen göttlichen Schöpfungsakt zurückführen, dann könnten sie der Person nicht zugeschrieben werden. Aber selbst wenn sie spontan entstanden wären, sähe es kaum besser aus.

Mit anderen Worten: Freiheit würde in einer solchen Sicht nicht nur auf völlig unrealistischen Voraussetzungen basieren. Sie würde stattdessen zu einem fundamentalen und unlösbaren Rätsel. Die Diskussion über die Willensfreiheit wäre in diesem Szenario eine Angelegenheit, von der wir tunlichst die Finger lassen sollten, weil sie zu nichts führen würde.

Es gibt aber noch einen anderen Zugang zum Problem der Willensfreiheit – und dies ist der zweite Ansatz. Er geht von bestimmten Problemen in menschlichen Gesellschaften aus. Wenn Normen verletzt oder besondere Verdienste erworben werden, dann müssen wir uns schließlich fragen, ob dafür jemand verantwortlich gemacht werden kann – entweder um Sanktionen zu erlassen oder um Belohnungen zu verteilen. Die Diskussion um die Willensfreiheit kann man unter diesen Voraussetzungen als einen äußerst differenzierten, zuweilen sogar haarspalterischen Versuch sehen, eine Antwort auf unsere Frage zu liefern. In der Geschichte finden sich solche Versuche bereits bei Augustinus (354 – 430), später auch bei Thomas Hobbes (1588 – 1679) und David Hume (1711 – 1776).

Zweifellos wurde diese Diskussion in der Geschichte jeweils mit dem zeitgenössischen Vokabular geführt, oft vor dem Hintergrund von Annahmen, die wir kaum noch tei- len. Doch viele der Thesen, die damals diskutiert wurden, sind trotzdem interessant: So finden sich etwa bei Augustinus oder den Stoikern Antworten, die – ein wenig umformuliert – noch heute Gültigkeit besitzen.

Ich möchte daher im Folgenden zeigen, dass sich ein Freiheitsbegriff entwickeln lässt, der keineswegs rätselhaft ist wie etwa das erste Szenario. Er genügt nicht nur allen wissenschaftlichen Prinzipien, sondern ist auch pragmatisch sinnvoll. Denn er führt zu einem aus Sicht der Gesellschaft wie auch der beteiligten Individuen sinnvollen Umgang mit Freiheit und Verantwortung. Stimmt meine Argumentation, dann wäre Freiheit kein metaphysisches Rätsel, sondern eine sowohl pragmatisch wie systematisch begründete Notwendigkeit.

Freiheitsskeptiker wie etwa der deutsche Psychologe Wolfgang Prinz vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig (»Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun«) behaupten oft, dass die Idee der Willensfreiheit zwar der Sache nach unhaltbar sei, wir aber dennoch aus praktischen Gründen an ihr festhalten müssten. Denn sonst könnten wir ja niemanden mehr für sein Tun verantwortlich machen. Das aber würde zu einem Zusammenbruch unseres Rechtssystems führen und außerdem unsere persönlichen Beziehungen in Mitleidenschaft ziehen.

Unterstellt wird in dieser Kritik ein Gegensatz zwischen den philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Problem der Willensfreiheit einerseits und den pragmatischen Anforderungen an eine funktionierende Gesellschaft andererseits. Ich möchte jedoch zeigen, dass ein solcher Gegensatz gar nicht existiert.

Schauen wir uns dazu an, unter welchen Bedingungen es für eine Gesellschaft sinnvoll ist, einer Person ihr Handeln vorzuwerfen beziehungsweise sie dafür zu belobigen. Pragmatisch sinnvoll ist so etwas vor allem dann, wenn der Betreffende damit zu guten Handlungen motiviert oder von schlechten abgehalten wird. Letzteres hängt offenbar von zwei Bedingungen ab: Zum einen muss man mit Lob oder Tadel die wirklichen Verursacher einer Handlung erreichen, also genau diejenigen, die entscheiden, ob die Handlung wiederholt wird oder nicht. Zum anderen sollten Lob und Tadel deren Verhalten auch tatsächlich beeinflussen können.

Wie Sie einem Bankräuber raten, von seinem Tun abzulassen

Betrachten wir zunächst die erste dieser Bedingungen. Will man mit den eigenen Reaktionen auf eine Handlung Normverletzungen verhindern und verdienstvolles Tun fördern, dann hat es wenig Sinn, sich an eine Person zu wenden, die keinen oder nur beschränkten Einfluss auf das Zustandekommen der Handlung hatte. Vielmehr muss man sich an den tatsächlichen Verantwortlichen halten. Banküberfälle lassen sich schlecht dadurch verhindern, dass man die Schalterangestellten unter Druck setzt. Einen wirklichen Effekt kann man nur erzielen, wenn man potenzielle Bankräuber dazu bringt, sich andere Einnahmequellen zu suchen. Dies bedeutet übrigens auch, dass die Handlung nicht zufällig zu Stande gekommen sein darf – Zufälle sind wenig empfänglich für Lob oder Tadel.

Schon aus solchen rein pragmatischen Gründen also, völlig unabhängig von allen systematischen Überlegungen über den Freiheitsbegriff und erst recht von metaphysischen Spekulationen, ist es geboten, den Urheber einer Handlung anzusprechen. (Ich werde weiter unten zeigen, dass eine systematische Analyse des Freiheitsbegriffs zu einem ganz ähnlichen Resultat führt.) Das allein reicht jedoch nicht. Selbst wenn man sich mit Lob und Tadel oder gar mit Belohnung und Strafe an den wirklichen Urheber einer Tat wendet: Erreichen lässt sich nur dann etwas, wenn der Urheber auch dafür empfänglich ist – wenn er sein Verhalten also tatsächlich verändern kann. Nur weil man ihn ermahnt, wird ein Alkoholiker vermutlich nicht von seiner Sucht lassen; ebenso wenig wird man mit einem bloßen Appell eine Person beeinflussen können, die an einer Zwangsstörung leidet.

Schon deshalb müssen Freiheit und Verantwortung daher an ein zweites Merkmal gebunden werden, nämlich an die Abwesenheit innerer und äußerer Zwänge. Ich bezeichne das hier als Autonomieprinzip. Nur dann, wenn eine Handlung diesem Prinzip genügt, lässt sich erwarten, dass Lob und Tadel auch die erwünschte Wirkung erzielen. Nur dann ist es pragmatisch sinnvoll, eine Person für etwas verantwortlich zu machen, im Positiven wie im Negativen.

Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass es nur sinnvoll ist, jemanden für sein Tun zur Rechenschaft zu ziehen, wenn er erstens der Urheber seines Tuns ist und zweitens autonom gehandelt hat. Nun möchte ich demonstrieren, dass eine systematische Analyse des Freiheitsbegriffs zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt. Ausgangspunkt einer solchen Analyse kann nur unser Alltagsgebrauch des Begriffs Freiheit sein. Dieser sollte dann in einer kohärenten und nach Möglichkeit mit wissenschaftlichen Prinzipien vereinbaren Konzeption zusammengefasst werden.

Zufällige Handlungen würden wir nicht als frei bezeichnen

Was ist also gemeint, wenn wir von Freiheit sprechen? Auch hier spielen die beiden genannten Kriterien eine zentrale Rolle. Zum einen würden wir immer nur solche Handlungen als frei bezeichnen, die nicht unter Zwang zu Stande gekommen sind. Anders gesagt: Von Freiheit sprechen wir nur, wenn eine Handlung autonom ist. Zweitens würden wir aber auch zufällige Handlungen nicht als frei bezeichnen. Zufälle sind von niemandem abhängig und durch niemanden kontrollierbar. Freie Handlungen müssen sich daher auf ihren Urheber zurückführen lassen. Andernfalls könnte man freie Handlungen nicht einer Person zuschreiben – und man hätte kaum einen Grund, die Person für ihr Handeln verantwortlich zu machen.

Auch die systematische Analyse zeigt also die zentrale Bedeutung von Autonomie und Urheberschaft. Beiden kann man dadurch gerecht werden, dass Freiheit mit Selbstbestimmung übersetzt wird. Dieses Verständnis ist gebräuchlich – so werden politische Freiheitsbewegungen oft auch als Bewegungen von Gruppen bezeichnet, die um ihre Selbstbestimmung kämpfen. Außerdem genügt diese Übersetzung den Prinzipien von Autonomie und Urheberschaft. Der Autonomie entspricht sie, weil eine unter äußerem oder innerem Zwang zu Stande gekommene Handlung nicht selbst-, sondern fremdbestimmt wäre. Und der Urheberschaft entspricht Selbstbestimmung, weil eine zufällige Handlung nicht nur das Prinzip der Urheberschaft, sondern auch die Forderung nach Selbstbestimmung verletzt: Sie wäre nicht selbst-, sondern einfach unbestimmt.

Selbstbestimmung lässt sich prinzipiell auch wissenschaftlich untersuchen – etwa zur Klärung der Frage, wie die Fähigkeit zu freiem Handeln entsteht, aber auch, wie sie eingeschränkt wird. Ebenso wäre für die Allgemeinheit von Interesse, wenn wir genauer wüssten, was unsere Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln gefährdet oder wie wir sie weiterentwickeln können.

Innere Zwänge verletzen die Selbstbestimmtheit

Es ist leicht zu erkennen, dass die systematischen Krite- rien für den Freiheitsbegriff mit den oben skizzierten Forderungen übereinstimmen – es waren ja gerade Autonomie und Urheberschaft, die sich aus pragmatischen Gründen als notwendig erwiesen hatten. Wenn eine Handlung nach den hier beschriebenen Kriterien selbstbestimmt ist, dann wird mögliches Lob oder Tadel auch den wirklichen Verursacher einer Tat treffen, also die sich selbst bestimmende Person. Wenn eine Handlung in Wirklichkeit von einer anderen Person ausging oder unter innerem Zwang entstand, dann wäre auch die Selbstbestimmtheit verletzt.

Mindestens genauso wichtig ist die Forderung, dass jede Konzeption von Freiheit mit wissenschaftlichen Prinzipien, vor allem mit der naturgesetzlichen Determination vereinbar ist. Zugegebenermaßen ist nicht klar, ob unsere Welt in all ihren Prozessen determiniert ist oder nicht – insbesondere wenn es um die Ebene von Synapsen und Nervenzellen im Gehirn geht, die für den Ablauf von Entscheidungsprozessen relevant ist. Es mag sein, dass auf dieser Ebene keine Determination herrscht. Doch selbst wenn das so wäre, dann würde daraus noch kein Gewinn einer Freiheit folgen, sondern allenfalls ein Verlust an Kontrolle. Eine in ihren Ursachen unbestimmte Handlung kann eben auch nicht durch ihren vermeintlichen Urheber bestimmt sein. Umgekehrt folgt daraus, dass eine freie Handlung sehr wohl determiniert sein darf, sofern die Determination vom Urheber ausgeht – genauer: von dessen Wünschen und Überzeugungen.

Spätestens hier verschwindet auch der vermeintliche Gegensatz von Willensfreiheit und Naturwissenschaft. Wenn freie Handlungen von den Wünschen und Überzeugungen ihres Urhebers abhängig sein sollen, dann lässt sich diese Abhängigkeit wissenschaftlich untersuchen. Und wenn wir in einer Welt leben, in der geistige Prozesse durch neuronale Aktivitäten im Gehirn einer Person realisiert werden – und vieles spricht dafür, dass dies so ist –, dann muss eine freie Handlung auch genau durch diejenigen neuronalen Prozesse bestimmt sein, welche die Wünsche und Überzeugungen des Urhebers realisieren. Dieser Zusammenhang lässt sich ebenfalls analysieren; ein Beispiel hierfür sind die Experimente des Hirnforschers John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin. In seinen Experimenten sollten Versuchspersonen eine Entscheidung zwischen zwei Optionen fällen. Auf Basis der dabei registrierten neuronalen Aktivitäten versuchten die Forscher dann vorherzusagen, wie sich die Person entscheiden wird – mit beachtlichem Erfolg.

Sind bewusste Willensakte nur ein wirkungsloses Nachspiel?

Doch hat es in der Vergangenheit nicht auch Experimente gegeben, die die Exis- tenz von Freiheit fundamental in Frage stellen? Tatsächlich sind einige Versuche ursprünglich so interpretiert worden. Berühmt geworden sind die Untersuchungen, die der amerikanische Physiologe Benjamin Libet (1916 – 2007) bereits vor 30 Jahren an der University of California in San Francisco durchgeführt hat. Libets Versuchspersonen mussten 40-mal eine einfache Handbewegung wiederholen. Dabei wurde der Zeitpunkt des bewussten Entschlusses mit dem Einsetzen einer bestimmten Hirnakti- vität verglichen, des so genannten Bereitschaftspotenzials. Zur Verblüffung der Forscher stellte sich dabei heraus, dass das Bereitschaftspotenzial den bewussten Entschlüssen um 350 Millisekunden vorauseilte. Dieser Befund löste beträchtliche Diskussionen aus: Bedeuteten die Ergebnisse womöglich, dass die eigentlichen Entscheidungen durch das Gehirn vorab getroffen werden? Und sind die bewussten Willensakte dann womöglich nur ein wirkungsloses Nachspiel, das mit der eigentlichen Entscheidung nichts mehr zu tun hat?

Diese Interpretation wird heute kaum noch vertreten. Es hat sich nämlich gezeigt, dass sie aus einer ganzen Reihe von Gründen völlig überzogen ist. Zum einen sollten vor allem Naturwissenschaftler nicht überrascht sein, wenn sich vor bewussten Entscheidungen im Gehirn bereits etwas abspielt. Andernfalls könnte die Handlung auch nicht durch die Wünsche und Überzeugungen der Person gesteuert und selbstbestimmt sein – es sei denn, man wollte wieder auf den oben skizzierten metaphysischen Freiheitsbegriff zurückgreifen.

Zweitens spricht gegen die obige Interpretation, dass es in den Libet-Experimenten gar keine wirkliche Entscheidung gab – zumindest nicht innerhalb der Versuchsanordnung selbst. Die Probanden mussten ein und dieselbe Handbewegung 40-mal wiederholen. Wenn es hier eine Entscheidung gegeben hat, dann fand sie bereits ganz am Anfang, also vor Beginn des eigentlichen Experiments, statt. Sie dürfte der Frage gegolten haben, ob man sich überhaupt an dem Labortest beteiligt oder nicht. War diese Entscheidung jedoch einmal gefallen, dann »wusste« das Gehirn, es hatte 40 Handbewegungen vorzubereiten. Auch deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich schon vor der tatsächlichen Fingerbewegung neuronale Prozesse registrieren lassen, die den Vorgang vorbereiten.

Freiheit bedeutet nicht das Fehlen von Determination

Die Libet-Experimente widerlegen also nicht die Handlungsfreiheit. Genauso wenig beweisen sie, dass unser Handeln nicht von unseren bewussten Absichten, sondern von unbewussten und unserer Kontrolle entzogenen neuronalen Prozessen gesteuert wird. Mittlerweile haben neurowissenschaftliche Experimente weitere Belege für die Wirksamkeit menschlicher Intentionen erbracht. So konnte der britische Kognitionsforscher Patrick Haggard vom Institute of Cognitive Neuroscience in London zeigen: Versuchspersonen können ziemlich gut zwischen absichtlichen und nichtabsichtlichen Handlungen unterscheiden. Warum sollten wir uns dann stets irren, wenn wir meinen, absichtlich und willentlich gehandelt zu haben – so wie es viele Skeptiker der Willensfreiheit meinen? Zudem wiesen John-Dylan Haynes und seine Kollegen in dem oben erwähnten Experiment nach, dass bewusste Absichten, genauer: deren neuronale Grundlagen, eine Vorhersage der beabsichtigten Handlung erlauben. Wenn dies so ist, dann müssen bewusste Absichten auch wirksam sein – andernfalls wäre der Erfolg solcher Prognosen völlig schleierhaft.

Halten wir also fest: Es gibt eine traditionelle Konzeption von Willensfreiheit, die aus einer Reihe von Gründen zu Problemen führt. Zum einen setzt sie Freiheit gleich mit dem Fehlen von Determination. Sie untergräbt damit die Kontrolle, die der Handelnde doch gerade über seine freien Handlungen benötigt, wenn er für sie zur Verantwortung gezogen werden soll. Zum anderen ist diese Vorstellung problematisch, weil sie die Merkmale, die eine freie Handlung auszeichnen, einer wissenschaftlichen Untersuchung entzieht.

Die alternative Konzeption überwindet hingegen nicht nur den Gegensatz zu wissenschaftlichen Prinzipien, sondern wird auch unseren intuitiven vorwissenschaftlichen Vorstellungen besser gerecht. Dieser Interpretation zufolge lässt sich Willensfreiheit als Selbstbestimmung verstehen. Das bedeutet, dass eine freie Handlung von ihrem Urheber abhängig ist, nicht aber von inneren oder äußeren Zwängen. Gestützt wird dieses Konzept nicht nur durch unsere Alltagsvorstellungen von Freiheit, sondern auch durch pragmatische Überlegungen. Es ist also nicht allein gerecht, die Zuweisung von Schuld und Verdienst an Selbstbestimmung zu binden, vielmehr ist es auch nützlich und hilfreich für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Nur so lässt sich nämlich gewährleisten, dass durch Belohnung und Strafe Einfluss auf die eigentlichen Urheber von guten oder verwerflichen Taten genommen wird.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Wer entscheidet? Wie das Gehirn unseren freien Willen beeinflusst

Was bedeutet es, ein Bewusstsein zu haben? Haben wir einen freien Willen? Diese Fragen beschäftigt Neurowissenschaft, Philosophie und Theologie gleichermaßen. Der erste Artikel zum Titelthema zeichnet die Entwicklung der neurowissenschaftlichen Forschung nach und zeigt, wie das Gehirn das subjektive Erleben formt. Anschließend geht es im Interview mit dem Neurophilosophen Michael Plauen um die Frage, ob wir frei und selbstbestimmt handeln, oder nur Marionetten unseres Gehirns sind. Die Antwort hat Konsequenzen für unser Selbstbild, die Rechtsprechung und unseren Umgang mit KI. Daneben berichten wir, wie virtuelle Szenarien die traditionelle Psychotherapie erfolgreich ergänzen und vor allem Angststörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen lindern können. Ein weiterer Artikel beleuchtet neue Therapieansätze bei Suchterkrankungen, die die Traumata, die viele Suchterkrankte in ihrer Kindheit und Jugend erfahren haben, berücksichtigen. Zudem beschäftigen wir uns mit der Theorienkrise in der Psychologie: Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer erklärt, warum die Psychologie dringend wieder lernen muss, ihre Theorien zu präzisieren.

Gehirn&Geist – Verbrechen: Die Psychologie des Bösen

Warum faszinieren wahre Verbrechen? True Crime ist ein Spiegel unserer psychologischen Neugier: Was macht Menschen zu Tätern – und wie gelingt es Ermittlern, die Wahrheit ans Licht zu bringen? In dieser Ausgabe geht es um die Kräfte, die Menschen in den Abgrund treiben oder zurückholen. Wir zeigen, warum Rache selten Frieden bringt, wie gefährliche Häftlinge in Sicherungsverwahrung leben, was das Stockholm-Syndrom über Überlebensstrategien verrät und mehr.

Spektrum - Die Woche – Quantenphysik auf einen Chip gebannt

Die Nobelpreise in Physiologie oder Medizin, Physik und Chemie sind vergeben. In »Die Woche« stellen wir die ausgezeichneten Entdeckungen vor. Außerdem zeigen wir, dass große Forschung nicht nur Fortschritt bedeutet: Manche preisgekrönte Arbeiten der Vergangenheit waren Fluch und Segen zugleich.

Schreiben Sie uns!

12 Beiträge anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.