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Kommentare - - Seite 1

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  • Wissenschaftlicher Diskurs und die Verantwortungsfrage

    25.05.2015, Reinhold Leinfelder
    Lieber Herr Paál,

    Sie stellen eingangs die Frage, ob es aufregend sei, im Anthropozän zu leben. Für die Wissenschaften ist es dies auf alle Fälle, und sicherlich könnte es auch für die gesamte Gesellschaft ähnlich aufregend werden. Ich gebe Ihnen recht, dass das Anthropozän zuallererst eine wissenschaftliche These darstellt bzw. darstellen sollte. Diese These geht davon aus, dass a) der Mensch zu einem Erdsystem-Faktor geworden ist und zumindest die exogene Geologie (Sedimentationsprozesse, Wasserkreislauf, Stoffflüsse, Bodenbildung, Biodiversität uvm) enorm beeinflusst, b) dieser Eingriff in das Erdsystem entsprechende Spuren auch in der geologischen Überlieferung, also in den Sedimenten hinterlässt, und c) dieser Eingriff so stark ist, dass die umweltstabile Situation des Holozäns, also die Nacheiszeit bereits verlassen wurde und damit grundsätzlich keine Rückkehr ins Holozän mehr möglich ist, also tatsächlich eine neue erdgeschichtliche Epoche angebrochen ist.
    Wie gesagt, dies alles ist erst einmal ein wissenschaftlicher Thesensatz, für den die Wissenschaften inzwischen aber umfassend Argumente zur Untermauerung zusammengetragen haben und noch weiter zusammentragen.

    Im Detail geht es hoch her bei dieser wissenschaftliche Auseinandersetzung, dies ist auch richtig und wichtig. Es geht zum einen natürlich um die Frage, wo die Untergrenze des Anthropozäns am besten zu legen sei, ob zuerst die Analyse der Sedimente, danach die der zugrundeliegenden Prozesse einsetzen sollte oder umgekehrt, wie Stratigrafie (also im weiteren Sinne die Genese von Gesteinsschichten) und Erdsystemforschung zusammespielen, ob bzw wie stark sich die Erdsystemforschung noch weiter öffnen sollte, ob bzw. wie diese sich dann von anderen Wissenschaftssparten abgrenzen sollte oder dies überhaupt noch muss. Bereits seit 1993 gibt es die Forderung, die Erdystemforschung um eine Anthroposphäre (sensu WBGU 1993, s. www.wbgu.de Hauptgutachten 1993) zu ergänzen; tatsächlich ist eine der Schlüsselaussagen aus der wissenschaftlichen Analyse, aber auch aus theoretischen Überlegungen, dass der angebliche Dualismus Mensch - Natur nichts mehr zum Erkenntnisgewinn beiträgt und statt dessen die Tätigkeiten der Menschheit in die Analyse, Modellierung und ggf. Szenarienbildung der Erdystemforschung mit integriert werden müssen. Daher sollten Sozial-, Kultur-, Technik- und Geisteswissenschaften mithelfen, die nicht linearen Vorgänge und dynamischen Wechselwirkungen im überkomplexen Erdsystem eines Anthropozäns besser zu verstehen. Manche Wissenschaftlern sehen hier einen genuinen Paradigmenwechsel der integrierten Erdsystemforschung, auf den wir nachher nochmals zu sprechen kommen werden.

    Lassen Sie mich aber zuerst auf Ihren Einwand eingehen, ob ein paar Jahre oder auch Jahrhunderte für die Wissenschaften einen Unterschied machen würden? Selbstverständlich machen sie das, wenn man den Sinn von zeitlichen Korrelationen verstanden hat. Um erdgeschichtliche Prozesse aus den Gesteinen herauslesen zu können, benötigt man eine möglichst akkurate und hohe zeitliche Auflösung. Je genauer diese ist, je weniger also Äpfel mit Birnen verglichen werden, desto exakter ist die Interpretationsmöglichkeit. So erlauben z.B. nur die sehr hohen zeitlichen Auflösungen an der Paläozän-Eozän-Grenze den Vergleich mit aktuellen Business-as-Usual-Zukunftsszenarien, nur die jährliche Auflösung auch von fossilen Zeitabschnitten etwa mithilfe der Jahresringe zooxanthellater Korallen erlaubt Aussagen über frühere El Niños, nur das Vorhandensein von "Tidal Bundles" in 230 Millionen Jahre alten Sedimenten lässt die Gezeitenaktivität von damals in ihrer Höhe abschätzen. Wo diese Auflösung fehlt, sind auch keine entsprechenden Aussagen möglich. Wenn wir also häufige Plastikreste als wesentliches Merkmal anthropozäner Sedimente definieren und dann die Untergrenze des Anthropozäns bei 1800 oder gar zu Beginn des Neolithikum legen würden, könnten wir die rasche technische Evolution nicht mehr aus den Sedimenten herauslesen, sondern spätere Geologen könnten ggf. fälschlicherweise zu dem Schluss kommen, dass Plastik seit dem Neolithikum verwendet wurde.

    Neben der wissenschaftlich sehr wichtigen Sachdiskussion zur Definition des Anthropozäns, aber auch zu den methodischen Forschungsansätzen gibt es natürlich auch die ebenfalls mehr oder weniger wissenschaftliche Diskussion vieler Kollegen, darunter natürlich auch klassischen Bedenkenträgern, wo ist das nicht so? So gibt es fast aus allen Wissenschaftsbereichen vehemente Befürworter, aber auch vehemente Gegner des Anthropozän-Konzeptes. Und etliche bauen sich ihr eigenes Anthropozän, indem sie z.B. Strohpuppen aufbauen, um sie dann genüsslich wieder einreißen zu können (siehe dazu den früheren Kommentar von Christian Schwägerl, dem ich mich voll anschließe). Die meisten dieser Kommentare entstammen der nachvollziehbaren, dennoch in der Regel kontraproduktiven Furcht, die "Anthropozäniker" könnten einem den eigenen Claim streitig machen. Viele Geografen befürworten das Anthropozän-Konzept, weil es längst überfällig physische Geografie und Humangeografie wieder zusammenbringt, andere Geographen kritisieren hingegen, dass sie dies alles doch schon längst auch ohne das Anthropozän-Konzept machen würden. Geologen befürworten und lehnen ebenfalls gleichermaßen ab ("wir haben doch schon die Quartärgeologie und die Ingenieursgeologie"), ähnliches gilt für Biologen, aber auch für Historiker, Archäologen, Kulturwissenschaftler und viele andere. Auch diesen Diskurs gilt es transparent zu führen. Und ja, da franst es tatsächlich manchmal aus, v.a. dann wenn, wie gerade erwähnt, jeweils ein persönliches Anthropozänkonzept zusammengebastelt wird. Klar, keinem "gehört" das Anthropozän-Konzept, meines Erachtens sollte man allerdings doch den Ansatz von Paul Crutzen sowie den später auch von ihm mitgetragenen Konkretisierungen folgen.

    Wo also verlässt das Anthropozän-Konzept die Wissenschaften tatsächlich, wie Sie, sehr geehrter Herr Paal dies offensichtlich befürchten? Ist es die Kommunikation des Konzeptes in Ausstellungen oder Comics? Das kann vermutlich nicht gemeint sein, wenn Sie von Popularisierungsaspekten sprechen, denn Wissenschaft gehört eben auch aufereitet, transferiert und öffentlich diskutiert, heute mehr denn je. Ja, ich sehe es tatsächlich so, dass das Konzept gerade auch geeignet ist, die Öffentlichkeit stärker für das Zusammenhängen von allem mit allem und der Eingebundenheit der Menschheit in dieses Gesamtsystem zu sensibilisieren. Ich möchte Ihre Frage, ob man das Anthropozän braucht, um sich für Nachhaltigkeitsfragen zu engagieren, folgendermaßen beantworten: Ja, ich denke, das Anthropozän ist hierbei hilfreich, denn bei den bisher gestellten Nachhaltigkeitsfragen ist allzuoft nur der Abwägungsgedanke zwischen Ökonomie, Sozialem und eben Ökologie implementiert - allzu oft mit dem Ausgang, dass die ökologische Nachhaltigkeit zu Gunsten von Pragmatismus hinten herunterfällt. Zu oft bedeutet heute nachhaltiges Wirtschaften immer nur, die Optimierung der Natur für unsere kurzfristigen Bedürfnisse ein bisschen abzuschwächen bzw. zu verlangsamen. Das ganzheitliche Denken, das Austauschen eines Umweltgedankens zugunsten eines Unsweltgedankens, das Erkennen unserer heutigen Abhängigkeit von längst vergangenen Naturprozessen und damit auch die bessere Reflexion des heutigen Tuns hinsichtlich zukünftiger "erdgeschichtlicher" Auswirkungen sehe ich als überaus hilfreich an. Sie kritisieren in diesem Zusammenhang den Untertitel der Münchner Anthropozän-Ausstellung "Unsere Verantwortung für die Zukunft Erde" als "ausfransend". Oben hab ich ja schon konzidiert, dass manchmal etliches "ausfranst", insbesondere wenn sich jeder sein eigenes Anthropozän zurechtlegt. Aber doch gerade nicht in diesem Kontext! Wir begeben uns nun also voll in die Debatte zur gesellschaftlichen Relevanz von Wissenschaften, zur Einbeziehung der Zivilgesellschaft in transdisziplinäre Ansätze, zur Frage, wo wissenschaftliche Beratung der Politik aufhört und damit also insgesamt zur gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaft. Diese Debatte können wir hier nicht in Kommentaren führen. Aber brechen wir das auf das Anthropozän herunter: Wenn wir eine "Anthroposphäre" als eine eng mit den Natursphären verzahnte Einheit als konzeptionell notwendig für eine neue Erdsystemforschung erachten, um Komplexitäten, Externalitäten, aber auch psychische Bedingtheiten von uns als Individuen, Gruppen und in unserer Gesamtheit mit zu berücksichtigen, ist das Thema Verantwortung selbstverständlich sofort auf dem Tisch. Ob dies noch ein integraler Teil des Anthropozän-Konzepts ist oder sich "nur" aus diesem ergibt, mag dahin gestellt sein und ist fast egal (- die Diskussion geht auch hier insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften weiter -), aber es bedeutet so oder so, dass dieser neue wissenschaftliche, systemische Blick auf die Welt eben auch das Thema Gerechtigkeit, Verantwortung, politische Machbarkeiten von Transformationen etc mit berücksichtigt, ja berücksichtigen muss. Wie dann allerdings die Bewertung stattfindet, also welche Zukunftspfade eingeschlagen werden könnten, und wie die Rolle und Gewichtung der Player dabei ist, muss ein gesellschaftlich-politischer Aushandlungsprozess leisten, der notwendig ist und - ja - der vielleicht ohne Anthropozän-Konzept anders aussehen könnte als mit. Ich persönlich sehe hier durchaus eine gewisse Kompatibilität zwischen der von Ihnen skizzierten globale Ethik und einem Verantwortungsgedanken, der sich aus dem Anthropozän-Konzept ergibt. Wenn die Geoethik allerdings nur die Geoethik von Geowissenschaftlern darstellen soll, würde dies m.E. viel zu kurz greifen. Im Anthropozän können sich aus meiner Sicht eine Geoethik, eine Bioethik, eine Neuroethik oder auch eine humanökologische Ethik nicht gegenseitig ausspielen oder zumindest voneinander abgrenzen, sondern müssten verbunden gedacht werden. In diesem Sinne bietet das Anthropozänkonzept eben eine anregende Ausgangsbasis für eine ethische Neubesinnung, die viel vorhandenes aufnehmen, um neue Aspekte erweitert und weiterentwickelt werden kann, ja muss.
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