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Tagebuch: Der Ameisenhaufen der friedlichen Koexistenz

Ameisenhügel
Blau und Weiß in friedlicher Koexistenz | Zukunftsvision für streitbare Völker? Wer im blauen Teil dieses architektonischen Gebildes lebt, wird nie auf Lebewesen im weißen Teil treffen – obwohl die Gänge regelrecht ineinander verschlungen sind.
Vor einigen Tagen habe ich in einem Tagebuchbeitrag die Geschichte von einem merkwürdigen geometrischen Gebilde erzählt: "Zwei Ameisenvölker, die sich gegenseitig nicht ausstehen können, bewohnen störungsfrei dasselbe Volumen. Das eine Volk lebt in dem Teilraum mit den blauen Wänden, das andere in dem mit den weißen Wänden. Beide verfügen einerseits über beträchtlichen Freiraum – es gibt sogar Durchblicke durch das gesamte eigene Wohngebiet –, andererseits über eine ziemlich winkelige, Intimität vermittelnde Architektur. Das Gesamtvolumen ist zu genau gleichen Teilen zwischen ihnen aufgeteilt, und ihre Wege kreuzen sich nie, obgleich sie einander beliebig oft umschlingen."

Die Rede ist von einem geometrischen Bastelprojekt, das wir auf der IdeenExpo in Hannover durchgeführt haben. Jeder, der vorbeikommt, kann in fünf bis zehn Minuten den Bau um ein paar Zimmer erweitern. Von dieser Möglichkeit haben an dem ersten Wochenende der IdeenExpo viele Leute Gebrauch gemacht.

"... und man landet wundersamerweise beim gewünschten Resultat"

Da außerdem viele LehrerInnen danach gefragt haben, wie das gemacht wird und wie man an die Bastelbögen kommt, will ich das hier erklären.

Das geht wie in der Mathematik üblich: Man fängt an einer ganz anderen Stelle an und landet nach einer Reihe wenig plausibler Umformungen auf einmal wundersamerweise beim gewünschten Resultat. Ich bitte also um einen Moment Geduld.

Wir fangen damit an, dass wir uns den Raum mit lauter Würfeln vollgestapelt vorstellen, und zwar abwechselnd mit schwarzen und weißen Würfeln. Die unterste Lage sieht aus wie ein unendlich ausgedehntes Schachbrett; wir legen dann auf jeden weißen Würfel einen schwarzen und umgekehrt und bauen so Schicht auf Schicht, nach oben wie nach unten bis ins Unendliche. Jeder weiße Würfel ist von sechs schwarzen umgeben und umgekehrt. (Schauen Sie im Moment noch nicht auf die Abbildung oben! Die blauen und weißen Wände dort sind nicht etwa die Begrenzungen der weißen und schwarzen Würfel.)

Jetzt kommt die große Fressorgie. Jeder weiße Würfel verleibt sich von jedem seiner sechs Nachbarwürfeln so viel ein, wie er kriegen kann. Aber alle weißen Würfel fangen zugleich an zu fressen, das heißt, jeder von ihnen kriegt von dem benachbarten schwarzen nur das ab, was ihm näher liegt als allen anderen weißen Würfeln. Im Mittelpunkt eines schwarzen Würfels treffen sich die an ihn angrenzenden weißen Fresser; jeder von ihnen hat sich eine Pyramide einverleibt, die die gemeinsame Grenzfläche der beiden Würfel als Grundfläche hat und als Spitze eben den Mittelpunkt des schwarzen Würfels. Jeder weiße Würfel ist um sechs Pyramiden – auf jeder Seitenfläche eine – angewachsen.

Ernsthafte Wissenschaft mit Voronoi-Zellen

Wem diese Geschichte zu rassistisch (oder zu verfressen) ist, der ist selbstverständlich frei, sie mit anderen Farben zu erzählen. Oder statt der weißen und schwarzen Würfel zum Beispiel Natrium- und Chloratome in einem Kochsalzkristall einzuführen. Mit der Geometrie kommt das schon hin; leider will die Vorstellung, die Chloratome würden sich um die Natriumatome balgen und sie dabei in sechs Stücke reißen, gar keinen Sinn machen. Aber das Konzept ist gleichwohl etabliert und ernsthafter Betrachtung würdig: Die Kristallografen nennen die Menge der Punkte, die einem bestimmten Atom näher sind als jedem anderen Atom, die Voronoi-Zelle dieses Atoms und treiben damit ernsthafte Wissenschaft (siehe zum Beispiel unsere Artikel Gepflasterte Materie und Wie Atome den Raum unter sich aufteilen).

Einerlei: Jeder weiße Würfel ist jetzt dicker geworden und hat 24 Seitenflächen, denn an die Stelle jeder ursprünglichen Seitenfläche treten die vier Wände der Pyramide. Oder? Nicht ganz. Je zwei dieser Pyramidenflächen grenzen entlang einer ehemaligen Würfelkante aneinander, und siehe da: Sie liegen in einer Ebene. Also fügen sich je zwei Dreiecke zu einer Raute (mit einem Diagonalenverhältnis von √2 zu 1), und der ganze Körper ist von zwölf dieser Rauten begrenzt. Daher der Name Rhombendodekaeder ("Rautenzwölfflächner").

Aus der beschriebenen Konstruktion geht sofort hervor, dass das Rhombendodekaeder ein Raumfüller ist: Wie die Würfel, aus denen es hervorgegangen ist, kann man beliebig viele Exemplare von ihm lückenlos zusammenpacken. Das Rhombendodekaeder hat sechs "spitze Ecken", das sind die ehemaligen Mittelpunkte der schwarzen Würfel, und in ihnen treffen sich vier Rauten mit ihren spitzen Winkeln. Es hat acht "stumpfe Ecken", das sind die Eckpunkte der weißen Würfel, und in ihnen treffen sich je drei Rauten mit ihren stumpfen Winkeln. Wer eines basteln will, findet zum Beispiel bei mathworld.wolfram.com einen Bastelbogen (zum direkten Download hier).

Variante für Sparsame

Wer nicht so viel Material verschwenden möchte (weil er zum Beispiel eine ganze Schulklasse Rhombendodekaeder bauen lassen will, damit man hinterher sieht, dass sie wirklich den Raum füllen), setzt den Körper lieber aus vier separaten Einzelteilen zusammen, die sparsam auf einem Bastelbogen angeordnet sind. Wer beachtet, dass sich stets entweder vier spitze oder drei stumpfe Ecken in einem Punkt treffen und dass immer ein Randstreifen unter eine nackte Kante zu kleben ist, kann eigentlich nichts falsch machen. Weitere interessante Einzelheiten zum Rhombendodekaeder findet man in meiner Serie zur räumlichen Geometrie.

Heimlicher Star | Der "Ameisenhaufen der friedlichen Koexistenz" war der heimliche Star der IdeenExpo. Im Prinzip kann diese geometrische Struktur unendliche Dimensionen annehmen – je nach Ausdauer der fleißigen Bastler!
Aber wie kommt man jetzt zum Ameisenhügel? Man stellt das Rhombendodekaeder in Gedanken mit einer seiner stumpfen Ecken auf den Boden, so dass eine weitere stumpfe Ecke zuoberst liegt. (Die ursprüngliche Würfelpackung liegt dann total schräg im Raum – etwas mühsam fürs Vorstellungsvermögen.) An die unterste Ecke grenzen drei Rauten und an die oberste auch. Lassen wir diese zwei mal drei Rauten weg, bleibt ein zusammenhängender Ring aus sechs Rauten übrig. (Ein "Gürtel", um genau zu sein. Deswegen ist das Rhombendodekaeder ein Zonoeder, was auch nur das griechische Wort für "Gürtelkörper" ist.)

Das Spiel machen wir jetzt in einer Raumfüllung durch Rhombendodekaeder. Wir kucken uns einen dieser Körper aus und nehmen ihm die drei obersten und die drei untersten Rauten weg, so dass nur noch der Ring übrigbleibt. Mit den angrenzenden Rhombendodekaedern verfahren wir genauso! Das heißt, wenn in einem Körper eine stumpfe Ecke samt angrenzenden Flächen wegfällt, dann fällt dieselbe Ecke samt angrenzenden Flächen auch in jedem der drei benachbarten Körper weg. Ein Körper, der auf diese Weise eine Ecke verliert, büßt auch gleich die genau gegenüberliegende Ecke ein. Dadurch werden weitere Nachbarkörper verstümmelt, und so weiter. Wundersamerweise passt das alles zusammen, und am Ende ist von jedem Rhombendodekaeder nur noch ein sechsteiliger Ring übrig.

Zartfühlend die Kanten ritzen

Aus diesem Bastelbogen gewinnt man drei solcher Ringe. Man ritze auf die übliche Weise mit einem Messer am Lineal entlang sehr zartfühlend (!) die Kanten zwischen benachbarten Rauten sowie die Grenzen zwischen Rauten und Randstreifen. Dann schneide man die drei Teile mit der Schere aus. Jede zweite Kante trägt einen Randstreifen, und in der Mitte grenzt Randstreifen an Randstreifen. Man knicke den Sechserstreifen so, dass die geritzten Grenzen zwischen den Rauten außen liegen ("Bergfalz"), und klebe ihn mit HIlfe des äußersten Randstreifens zum Ring zusammen. Die verbleibenden Randstreifen muss man so knicken, dass die geritzte Seite innen liegt ("Talfalz").

Der Rest ist dann ganz einfach. Kleben Sie Ring an Ring derart, dass stets ein Randstreifen unter eine nackte Kante zu liegen kommt. Dabei sollen niemals zwei Ringe parallel liegen. Vielmehr kommen drei Ringe um einen Punkt zu liegen. Mit jedem Ring wächst das Bauwerk an; irgendwann schließen sich sechs Ringe zu einem großen Ring. Ab da hat man nicht mehr unbedingt den Eindruck, dass das Gebilde eine (blaue) Außenseite und eine (weiße) Innenseite hat. Und mit zunehmender Größe wird der Ameisenhaufen immer eindrucksvoller.

Das Schönste zum Schluss

Es geht übrigens auch einfacher. Wer bereit ist, rechte Winkel und eine eher strenge Bauhaus-Architektur zu akzeptieren, nehme Streifen aus vier Quadraten, ebenfalls mit unterschiedlich gefärbter Vorder- und Rückseite, klebe diese Streifen zu Ringen und die Ringe so zusammen, dass nie zwei von ihnen parallel sind, und erhalte ebenfalls eine Aufteilung des Raums in zwei voneinander getrennte Mengen, die sich gegenseitig beliebig oft umschlingen. Unser Autor Norbert Treitz ("Physikalische Unterhaltungen") hat anlässlich einer Ausstellung im Gießener Mathematikum sein Publikum gebeten, dergleichen zu bauen – mit durchaus imposantem Erfolg. Unser Ameisenhaufen ist also schon die fortgeschrittene Variante.

Das Schönste zum Schluss: Aufgrund eines Bestellfehlers haben wir noch große Mengen Bastelbögen übrig. Die verschenken wir in Portionen zu 100 Stück (das gibt schon einen ganz eindrucksvollen Ameisenhaufen) – solange Vorrat reicht. Schicken Sie einfach eine E-Mail an poeppe@spektrum.com und vergessen Sie nicht, die Adresse Ihrer Schule anzugeben. Nach vollbrachter Tat wünschen wir uns einen kurzen Erfahrungsbericht (möglichst mit Bild), den wir für die Allgemeinheit an dieser Stelle online stellen würden.

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