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Tagebuch: Drohende Leere

Siegried Bethke vom Max-Planck-Institut für Physik
Siegried Bethke vom Max-Planck-Institut für Physik
Die Spannung war groß, kündigte doch Siegfried Bethke die neuesten Messergebnisse vom größten Experiment der Menschheit an. Die wurden praktisch gleichzeitig auf der Tagung der European Physical Society in Grenoble bekanntgegeben. So konnte der Teilchenphysiker und Direktor am Max-Planck-Institut für Physik in München bei seinem Vortrag im Physikalischen Kolloquium der Universität Heidelberg auch neueste Daten und Messwerte vom Large Hadron Collider LHC am Cern bei Genf zeigen, ohne die strikten offiziellen Verkündigungsregeln der Großkollaboration zu verletzen. Und natürlich warteten alle begierig auf Neuigkeiten über das sagenumwobene Higgs-Teilchen.

Die Zurückhaltung des Forschers hat gute Gründe: Zu oft hatten in letzter Zeit einzelne Wissenschaftler per Blog Spekulationen in die Welt gepustet, die dann aber einer genauen Prüfung nicht standhielten. Solche Desinformationen und mediale Luftballons, wie sie auch vom amerikanischen Tevatron-Beschleuniger (der Ende des Jahres dicht gemacht wird) sattsam bekannt sind, fördern nicht gerade das seriöse Image eines Superexperiments, an dem die edelsten aller physikalischen Geister arbeiten.

Doch die Quintessenz, die Bethke anzubieten hatte, enttäuschte die Zuhörer offenbar: "Keine positive Signatur bis jetzt beobachtet – nur Ausschlussgrenzen". Und er zeigte einen Zeitungsartikel, der bereits das Ende einer schönen Theorie hinausposaunte: "Wunderbare Theorie kollidiert mit vernichtenden Teilchendaten".

Aber gleichwohl haben die LHC-Forscher viel und Spannendes zu berichten. Zunächst liefert der LHC, an dem seit dem 30. März letzten Jahres erfolgreich die Protonen aufeinander prasseln, eine fulminante Bestätigung des "Standardmodells" der Teilchenphysik. "Wir konnten das Standardmodell bis zu den höchsten Energien von sieben Teraeelektronenvolt, mit denen wir experimentieren, bestätigen."
Das ist zwar nur die halbe Kraft, zu der der LHC einmal fähig sein soll, aber erst nach einem großen Umbau im Jahre 2013 sollen die maximal möglichen 14 Teraeelektronenvolt Energie erreicht werden.

Zur Erinnerung: Das "Standardmodell" der Teilchenphysik liefert für drei der vier Naturkräfte einen mathematischen Rahmen, in dem sich auch alle bekannten Messergebnisse unterbringen lassen. Doch in diesem Standardmodell gibt es eine Reihe von Fragen, die nicht beantwortet werden, sondern höchstens von einer erweiterten Theorie geklärt werden könnten. So macht es unphysikalische Vorhersagen bei sehr hohen Energien, hat über zwei Dutzend freie Parameter, darunter die 26 Massen bekannter Elementarteilchen. Auch weiß es keine Erklärung für die (bis auf das Vorzeichen) Gleichheit der elektrischen Ladungen von Proton und Elektron, und erklärt nicht den Ursprung der Antimaterie-Materie-Asymmetrie im Universum. Auch haben in dem Modell alle Teilchen keine Ruhemasse – es sei denn, man erweitert es um einen Mechanismus, der den Teilchen sozusagen die Masse verleiht.
Der britische Theoretiker Peter Higgs fügte bereits Ende der 1960er Jahre dem Standardmodell ein weiteres so genanntes Feld hinzu, das mit den masselosen Teilchen in Wechselwirkung tritt. Dann erhalten diese bei diesem Prozess auch Masse. Dieser Effekt gilt auch für dasjenige Partikel, welches das Higgs-Feld überträgt – es erhält also ebenfalls Masse. Das ist das so genannte Higgs-Teilchen, das berüchtigte Gottesteilchen, nach dem die Forscher mit dem LHC jetzt suchen.

Dunkle Materie ist ein weiteres Rätsel, das die Forscher beschäftigt. Diesmal sind es die Kosmologen, die ein Problem haben und die mit gewöhnlicher ("hadronischer") Materie, aus der auch wir bestehen, nur fünf Prozent der gesamten Materie im Universum erklären können. Den unerklärten Rest von 95 Prozent teilen sich zwei große Unbekannte: Dunkle Materie und Dunkle Energie. Und so hoffen die Forscher, wenigstens ein neuartiges Teilchen zu entdecken, das den Hauptbestandteil der Dunklen Materie im Kosmos bilden könnte.

Das führt nicht nur Bethke zu SUSY, der Theorie der so genannten Supersymmetrie, welche die Physik jenseits des Standardmodells beschreiben soll. Unter anderem verdoppelt sie, um allen Anforderungen gerecht zu werden, die Anzahl der Fundamentalteilchen – zu jedem bekannten Teilchen des Standardmodells gesellt sich in diesem Rahmen ein weiteres Teilchen, sein "SUSY-Partner". Das leichteste stabile dieser neuen Teilchen könnte, so hoffen die SUSY-Theoretiker, ein idealer Kandidat für die Dunkle Materie sein.

Wenigstens können die LHC-Physiker inzwischen die mögliche Masse des Higgs-Teilchens einschränken und bestimmte Unter- und Obergrenzen vorweisen. Vom Vorgänger des LHC an Cern, dem large Electron-Positron Collider, waren bereits alle Werte unterhalb von 114 Gigaelektronenvolt (ein Gigaelektronenvolt entspricht etwa dem Energieäquivalent einer Protonenmasse) ausgeschlossen worden. Umgekehrt hatte eine Reihe von Präzisionsmessungen gezeigt, dass Massenwerte oberhalb von 182 Gigaelektronenvolt nicht mehr in Frage kommen. Und schließlich hatte die amerikanische Konkurrenz in dem noch zulässigen „Massenfenster“ zwischen 114 und 182 Gigaelektronenvolt akribisch gesucht und alle Werte zwischen 157 und 172 für unzulässig erklärt.

Die beiden Großexperimente am LHC, Atlas und CMS, an denen jeweils rund 3000 Physiker arbeiten, konnten jetzt weitere und etwas andere Ausschlussintervalle vorgelegen:
- CMS: 149 – 206 Gigaelektronenvolt
- Atlas: 155 – 190, sowie 295 – 450 Gigaelektronenvolt.

Fasst man also alle Daten zusammen, bleibt für das hypothetische Higgs-Partikel nur mehr das Massenfenster zwischen 114 und 149 Gigaelektronenvolt übrig. Um solchen eher negativ klingenden Resultaten etwas mehr positive Würze zu verleihen, zeigte Bethke in den Messdaten, dass zwischen 130 und 150 Gigaelektronenvolt etwas mehr Higg-artige Teilchenzerfälle vorkamen, als die Theoretiker erwartet hatten. Ob sich hinter dem kleinen, statistisch nicht signifikanten Hügelchen in den Daten schon das Gottesteilchen verbirgt? Noch könnte es sich, so betont der Physiker, auch um systematische Messfehler oder falsche Kalibrierung des Untergrunds aus anderen Teilchenzerfällen handeln. Hier ist wohl einfach Geduld angesagt: Der LHC soll schließlich noch mindestens bis zum Jahre 2025 laufen.

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