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Tagebuch: Schnell, schneller, Limit erreicht?

Mit sechs Jahren wollte ich vor allem eines: Laufen. Und war vom Leichtathletikverein anfangs enttäuscht, denn dort schult man hauptsächlich Koordination, Kraft, Ausdauer und alles andere – in diesem Alter immerhin spielerisch –, ans reine Laufen geht es aber erst relativ spät. Doch vielleicht auch gerade deshalb hat mich keine andere Sportart so viele Jahre fesseln können, mittlerweile besitze ich sogar einen Trainerschein. Und wenn die Wissenschaft neue Erkenntnisse über das Laufen zu Tage fördert, bin ich natürlich ganz besonders neugierig.

So stieß ich kürzlich auf Marc Dennys "Grenzen der Laufgeschwindigkeit bei Hunden, Pferden und Menschen", ein Artikel, den er im vergangenen November im Journal of Experimental Biology veröffentlichte. Auf 13 Seiten stellt der Meeresbiologe und Biomechaniker von der Hopkins Marine Station of Stanford University allerlei Überlegungen zum Tempo der Fortbewegung von Landsäugern an (nachdem er sich schon vor Jahren zum Beispiel mit der Frage beschäftigt hat: "Are there mechanical limits to size in wave-swept organisms?"). Mittels Statistiken zu Rennergebnissen und zu Populationsdaten aus Zuchtbüchern versucht er jetzt herauszufinden, ob für die Laufgeschwindigkeiten von Säugetieren eine obere Grenze existiert. Und falls ja: Wie nah sind heutige Individuen an ihren Limits?

Genpool erschöpft? Vielleicht hilft eine neue Züchtungsstrategie

Einige mathematische Formeln, die er nicht besonders präzise erläutert – wofür ich ihm allerdings auch nicht böse bin –, lassen Denny in dieser Arbeit zum Schluss kommen, dass Vollblüter und Windhunde ihr Limit bereits erreicht haben. Denn seit den 1970 Jahren seien ihre Maximalgeschwindigkeiten bei allen großen Rennen konstant geblieben. Nur bis zu diesem Zeitpunkt habe man mit Züchtungsbemühungen noch Verbesserungen erzielt. Dann aber war offenbar der Genpool erschöpft, folgert Denny. Aufgeben will er dennoch nicht: "Es ist gut möglich", zieht er Fazit über die Zukunft von Pferd und Hund, "dass eine andere Züchtungsstrategie noch schnellere Individuen von Equus caballus und Canis familiaris hervorbringen kann."

Was tut sich auf der 100-Meter-Strecke? | Die Grafik zeigt, getrennt für Männer und Frauen, die in jedem Jahr schnellste Zeit, die ein Läufer für die 100-Meter-Distanz benötigte. Die grüne Linie deutet an, dass Läuferinnen ihre Leistung seit den 1970ern nicht mehr dauerhaft steigern konnten. Männer dagegen scheinen noch kein Limit erreicht zu haben. In Pink dargestellt: Der aktuelle Weltrekord der Männer, den Usain Bolt bei den Olympischen Spielen 2008 aufstellte. Die Grafik stammt von Marc Denny von der Hopkins Marine Station of Stanford University.
Bei Menschen dagegen sei laut Denny zumindest in manchen Laufdisziplinen noch einiges möglich. Denn mit steigender Populationsgröße „wächst die Wahrscheinlichkeit, dass ein noch schnellerer Läufer gefunden wird“. (Windhunde und Vollblüter können von diesem Zusammenhang nicht profitieren, ihre Population stagniert infolge menschlicher Kontrolle.) Denny rechnet darum damit, dass Männer den Weltrekord beim Lauf über 100 Meter von aktuell 9,69 Sekunden, aufgestellt von Usain Bolt bei den vergangenen Olympischen Spielen in Peking, auf 9,48 Sekunden drücken können. Auch Frauen hätten – trotz Stillstands seit Ende der 1990er Jahre – noch einen gewissen Spielraum, ganze 0,2 Sekunden seien machbar. Letztendlich muss Denny aber selbst feststellen: „Meine Ergebnisse sind genauso unbefriedigend wie diejenigen früherer statistischer Analysen: Sie sagen uns, dass Geschwindigkeit eine Grenze besitzt, aber nicht, welche Faktoren diese Grenze festlegen."

Hoher BMI = schnell?

Ich suchte also nach weiteren Studien und stieß dabei auf Peter Weyand und Adam Davis. Schon 2005 hatten die Forscher vom Institut für Bewegungslehre der Rice University in Houston untersucht, welche physiologischen Bedingungen dem Lauftempo zu Gute kommen. Dazu warfen sie einen genauen Blick auf Läufer, die auf Strecken von 100 bis 10.000 Metern spezialisiert waren. Und behaupten, eine einzige direkte Verbindung zwischen Masse und Statur (beides zusammengefasst im Body-Mass-Index BMI) und Abstoßungskraft vom Boden gefunden zu haben: Je höher der BMI – zumindest bei durchtrainierten Sportlern –, desto höher die Abstoßungskraft und damit letztlich die Geschwindigkeit. Demnach können sich auch massereiche Körper sehr schnell bewegen, etwa die in der Regel sehr kräftigen und muskulösen Sprinter mit ihrem vergleichsweise hohen BMI. Das ist keine Binsenweisheit. Weyand und Davis verweisen zu Recht beispielsweise darauf, dass eine Reihe von Spielfilmen die Geschwindigkeit einer prähistorischen Kreatur, nämlich des sechs bis acht Tonnen schweren Tyrannosaurus rex, drastisch unterschätzen. (Mehr zu den Riesenechsen übrigens auch in SdW, Juni 1991, S. 82 ff.: "Wie Dinosaurier sich fortbewegten"; leider nicht online).

T. Rex gilt auch Adrian Bejan und James H. Marden als Modellfall. In ihrem "Spektrum"-Artikel "Laufen = Fliegen = Schwimmen" (SdW 6/2008) präsentierten sie ihre "konstruktale Theorie", mittels derer sie aus Eigenschaften der jeweiligen biologisch-physischen "Konstruktion" auf die so erreichbaren Geschwindigkeiten schließen wollen. Nur weil der riesige Dinosaurier so schwer war, sagen die beiden US-Forscher, muss er noch lange nicht behäbig über die Erde gewandert sein. Ihrer Theorie zufolge ist die Maximalgeschwindigkeit sogar direkt von der Masse abhängig: Je mehr Gewicht ein Säuger auf die Waage bringt, desto schneller könne er – zumindest im Prinzip – laufen. Anders als ihre Kollegen gehen Bejan und Marden nicht von Faktoren aus, die die Geschwindigkeit einschränken, zum Beispiel die maximale Schnelligkeit der Muskelkontraktion. Vielmehr steht bei ihnen der sehr plausible Gedanke im Vordergrund, dass Körper in der Regel so beschaffen sind, dass sie Energie möglichst effektiv nutzen.

Anatomischer "Umbau" des homo

Andererseits: Dass die Geschwindigkeit laufender Tiere – wie dort zu lesen ist – annähernd derselben Beziehung zur Masse gehorche wie das Flugtempo von Vögeln, nämlich eine Funktion von M(asse)0,17 sei, klingt für mich kaum noch, als hätte das tatsächlich etwas mit dem Laufen zu tun. Näher liegt mir der wesentlich anschaulichere Ansatz zweier Forscher von der Harvard University und der University of Utah. Daniel Lieberman und Dennis Bramble verglichen die Laufleistungen von Primaten einschließlich des Menschen und einiger anderer Tiere miteinander. Statistiken ignorierten sie dabei bewusst, sondern nahmen vielmehr ganz konkret die anatomischen Anpassungen etwa von Gelenken und Knochen in den Fokus, wie sie im Verlauf der Evolution des Menschen, auf dem Weg von Australopithecus über Homo habilis und Homo erectus hin zum modernen Menschen, "eingebaut" wurden.

Schon die Homo-erectus-Anatomie passte sich ans Laufen an | Australopithecus afarensis und Homo erectus unterscheiden sich in einigen anatomischen Merkmalen, die den Menschen Langstreckenläufe erleichterten.
Ihnen zufolge verloren sich die Kletterfähigkeiten der Frühmenschen zugunsten von Anpassungen an das ausdauernde Laufen, von denen sie gleich 26 verschiedene auflisten. So befähigten eine längere Achillessehne und längere Bänder (bei gleichzeitig kürzer werdenden Muskeln) "Homo sapiens" zu ergonomischerer Bewegung und unterstützten ihn in seinem Leben als Jäger und Sammler. Zudem verbreiterte sich allmählich die Schulterpartie und sank tiefer, die Hüftgürtelmuskulatur wurde dagegen schmaler. Beide Rumpfbereiche sind dadurch weniger stark aneinander gekoppelt und von Kopfbewegungen relativ unabhängig. So ist der heutige Mensch zwar langsamer als die meisten Raub- oder Fluchttiere, im Lauf der Entwicklung aber zu einem leistungsfähigen Langstreckenläufer geworden.

Diese Herangehensweise gefällt mir schon besser. Da haben also unsere Vorfahren gewissermaßen dafür gesorgt, dass ich mich heute nicht behäbig durch die Landschaft schleppe, sondern als Schönwetterläufer – zwar mit nicht perfekter Anatomie, dafür aber auch ohne Anspruch auf das Brechen von Geschwindigkeitsrekorden – schöne Tage habe. Dann ist mir, ehrlich gesagt, auch fast schon wieder egal, wie schnell ich im Prinzip laufen könnte.

Sandra Czaja

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