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Tagebuch: Sind wir wirklich einzigartig?

Gerhard Roth
Schon als Kind wollte Gerhard Roth genau wissen, wie Bewusstsein und Geist funktionieren und hoffte, "dass die Philosophie mir das sagt". Er studierte das Fach in Münster und später in Rom, wo er auch promovierte. Aber irgend etwas fehlte: "Ich habe relativ früh gemerkt, dass sich Philosophen gar nicht dafür interessieren, was das Bewusstsein wirklich ist, sondern nur dafür, was Platon oder Descartes darüber geschrieben haben." Deshalb fühlte er sich zunehmend zu den Hirnforschern an seiner Münsteraner Universität hingezogen, etwa zu dem Psychologen Wolfgang Metzger oder dem Evolutionsbiologen Bernhard Rensch.

Doch die Neurowissenschaft in ihrer heutigen Form existierte in den 1960er Jahren noch gar nicht. Was also tun? Roth sattelte erst einmal ein Biologiestudium auf und schloss 1974 eine zweite Doktorarbeit ab, diesmal in Zoologie. Dann endlich befasste er sich genauer mit dem menschlichen Gehirn.

"Ich bin ich sehr froh, dass ich beides studiert habe" | Gerhard Roth (rechts im Bild) studierte Philosophie in Münster und Rom – und anschließend Biologie.
Der Mensch besitzt eine Sonderstellung im Tierreich, heißt es oft. Doch das Podest bröckelt, auf das wir uns selbst gestellt haben – so lässt sich Gerhard Roths jüngster Vortrag am Deutsch-Amerikanischen Institut in Heidelberg wohl zusammenfassen. Der heutige Professor für Verhaltensphysiologie in Bremen räumte zunächst einmal mit einigen Mythen auf. Seine Beispiele hielt er bewusst einfach: Ist Intelligenz eine Frage der Hirnmasse? Dann wären Wale und Elefanten intelligenter als wir. Vielleicht ist eher das Verhältnis von Hirn- zu Körpermasse entscheidend? Dann wäre uns so mancher Nager intellektuell überlegen. Vielleicht gibt die Anzahl der Zellen im Denkapparat den Ausschlag? Oder die Anzahl der Verbindungen zwischen den Nervenzellen?

In der Vergangenheit haben viele Biologen über das geschrieben, was das menschliche Gehirn unter allen anderen herausragen lässt. Früher bildeten manche Kollegen, so berichtete Roth, in Fachbüchern die Gehirne verschiedener Arten mit aufsteigender Masse ab – und setzten den Menschen an die Spitze. Doch der Mensch besitzt weder den schwersten Denkapparat im Tierreich, noch ist Größe allein eine Kategorie für Intelligenz. Denn wie wir heute wissen, sind auch Sing- und Rabenvögel recht schlau, obwohl ihre Hirnmasse gerade einmal wenige Gramm beträgt.

Intelligenz – die Fähigkeit, Probleme in einem gewissen Zeitrahmen zu lösen – ist also nicht typisch menschlich. Genauso wenig ist es der Aufbau unseres Gehirns: Denn "die Evolution des Allzweckorgans war extrem konservativ", erklärt Roth. Zwischen den Gehirnen von Dohle, Homo sapiens, Rattenigel oder Schleimaal gebe es kaum Unterschiede im grundlegenden Aufbau. Besonders bei den Primaten müsse man ganz genau hinsehen, um überhaupt Unterschiede zum Menschen zu entdecken. Die bestehen möglicherweise etwa in der minimal dickeren Großhirnrinde und der etwas besseren Vernetzung von Neuronen.

Größe ist nicht alles | Große Unterschiede in den Gehirnen von Wirbeltieren – und insbesondere von Säugern – zu finden, ist laut Gerhard Roth nicht leicht.
Und wie sieht es mit weiteren vermeintlich einzigartigen Leistungen des Menschen aus? Der Mensch erkennt sich selbst im Spiegel – wie auch viele Affenarten, Elefanten und Delfine. Er baut sich Werkzeuge – wie Primaten und Rabenvögel. Immerhin hat die Sprache ("Gott sei dank!") das Potenzial, eine ausschließlich menschliche Fähigkeit zu sein. Zwar kommunizieren viele Tiere über Laute. Einem Zwergschimpansen etwa können hunderte Begriffe beigebracht werden. Doch er wird nie ein höheres Sprachniveau erreichen als ein zweieinhalb Jahre altes Kind. In diesem Alter entwickelt sich bei uns die syntaktisch-grammatische Sprache, und der Wortschatz explodiert. Dafür verantwortlich ist das Broca-Areal in der Großhirnrinde – und das gibt es tatsächlich nur bei uns.

Die Fahndung nach menschlichen Einzigartigkeiten fällt also selbst dem Zoologie-Experten Roth nicht leicht, wie er auch in seinem neuen Buch beschreibt. Denn im Tierreich haben sich parallel viele Formen von Intelligenz entwickelt. Vielleicht hat tatsächlich nur ein kleiner Unterschied im Gehirn unserer Vorfahren bewirkt, dass sich die Sprache entwickelte – gefolgt von anderen kulturellen "Intelligenzverstärkern" wie der Schrift und dem Computer. Das Podest bröckelt weiter, und Neurowissenschaftler leisten dazu einen ganz erheblichen Beitrag.

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Anm.d.Red.: Den verschiedenen Formen von Intelligenz im Tierreich widmet sich der Philosoph Albert Newen in der kommenden Aprilausgabe von Spektrum der Wissenschaft, die Sie ab dem 22. März im Handel finden. Sein Beitrag ist Teil unserer im März begonnenen Philosophie-Serie. Bereits erschienen sind: Uns bleiben die unlösbaren Probleme (Interview mit Julian Nida-Rümelin), Wer bin ich? (ein Beitrag ebenfalls von Albert Newen), Eine Frage der Selbstbestimmung (ein Beitrag von Michael Pauen).

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