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Tagebuch: Über vergangene Geschmäcker lässt sich nicht streiten

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Berlin, 21. September 2006
2. Tag des 5. Symposiums der Internationalen Studiengruppe zur Musikarchäologie

Was haben Didgeridoos auf einem Weihnachtsmarkt zu suchen? Seit einigen Jahren gehören sie zum festen Inventar so manches mit Lichtern geschmückten Standes. Dabei könnten sie fremdartiger kaum sein, wie dieser Tag der experimentellen Musikarchäologie demonstriert. Die von Termiten ausgehöhlten Harthölzer erzählen Geschichten, wie auch die Sänger, mit denen Didgeridoo-Spieler gemeinsam auftreten. „Sie zeigen den Schatten der Worte“, erklärt der in Kiel lebende Musiker Phil Conyngham. Denn all das Wummern und Trompeten und Rauschen entsteht, weil der Spieler mit seinem Vokaltrakt Resonanzfrequenzen verändert. Er formt Worte – oder projeziert ihren Schatten auf das Instrument – und moduliert so den Luftstrom.

Rhythmus ist dabei ein wichtiger Aspekt: Das Didgeridoo spricht und stampft und groovt, komplexe rhythmische Verschiebungen und Tempowechsel sind die Regel. Oft verwenden die Musiker deshalb zusätzlich Klanghölzer als Rhythmusgeber, um ihr Ensemble samt Tänzern zu synchronisieren.
Jede Region des fünften Kontinents hat ihre eigenen rhythmischen Muster. Einmal habe er seine Zuhörerschaft durch Fanfarenstöße in die Flucht geschlagen. Erst hinterher erfuhr er, dass dieses Element dort den Tod verkündet.

Was hat das nun mit Musikarchäologie zu tun? Nun, ethnologische Vergleiche sind eine wichtige Informationsquelle, um die Spieltechniken der Vorzeit zu ermitteln und zu rekonstruieren. Denn manches, was typisch für das Didgeridoo ist, funktioniert auf ähnliche Weise auch auf den Blasinstrumenten der europäischen Bronzezeit – wenngleich das kein Beweis ist, dass dergleichen Spieltechniken damals auch wirklich praktiziert wurden.

Klingt ein Didgeridoo urtümlich und magisch, so wirken mittelamerikanische Doppelflöten hingegen befremdlich. Die amerikanische Musikerin Susan Rawcliff erkundet mit diesen Instrumenten uns ungewohnte mikrotonale Räume – an Tonschritte, die kleiner als ein Halbton sind, müssen sich unsere heutigen Ohren erst gewöhnen.

Susan Rawcliffs Vortrag widmet sich keramischen Doppelflöten, besonders schrillen Instrumenten des Alten Amerika. Sie sind aus einem Stück gefertigt , doch auf Grund minimaler Unterschiede der beiden einzelnen Röhren leicht gegeneinander verstimmt – mitunter beträgt der Unterschied nur ein Hertz. Spielt man sie nun zusammen – Susan gibt davon einige Kostproben –, erklingen Schwebungen und Reibungen, Pulsationen und Differenztöne.

Auf mich wirkt das mal schön und voll, dann wieder unerträglich und kreischend. Freilich gehöre ich nicht zum Zielpublikum, das die Musiker vor mehr als 1000 Jahren im Sinn hatten und das offenbar ganz andere Hörerwartungen und –gewohnheiten hatte. Doch wenn ich mich auf diese Musik einlasse, beginnt irgendwo tief in mir etwas mitzuschwingen. Und das bringt mich auf eine Idee: Wären diese Doppelflöten nicht auch ein nettes Geschenk auf dem weihnachtlich-musikalischen Gabentisch?

Von Klaus-Dieter Linsmeier

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