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Tagebuch: Vier Dimensionen minus ein bisschen (IV)

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Obwohl der Hörsaal der Dubna-Konferenz im Grunde auch in jeder anderen Stadt stehen könnte, zeigen sich doch einige kleine, aber durchaus auffällige Unterschiede im Tagungsablauf. Sie erinnern mich immer wieder daran: Ich bin nicht in Heidelberg, sondern in Russland. Während beispielsweise lautes Handyklingeln in deutschen Hörsälen verpönt ist und man mit Blicken durchbohrt wird, wenn es doch einmal geschieht, scheint hier eine andere Tradition zu existieren (wenn man denn angesichts der relativ neuen Technik schon von Tradition sprechen kann).

Gerade die ältesten Herrschaften aus der ersten Reihe lassen ihr Handy stets auf "sehr laut" gestellt. Ertönt dann plötzlich abenteuerlichste Musik, ziehen sie es heraus, rücken die Brille zurecht, heben ab, stehen auf und gehen rasch für wenige Minuten hinaus. Auch SMS mögen die älteren Physiker sehr: Ich habe hier viele neue Klingeltöne kennen gelernt, die das Versenden und Empfangen von Nachrichten begleiteten. Andererseits gönnt man den Handyherrschaften diesen Spaß beinahe, wenn man dann das zufriedene Lächeln auf ihren Gesichtern sieht.

Dafür fließt der Tee aus schweren weißen Porzellankannen in kunstvoll mit Farben und Formen verzierte Porzellantassen. In meinen Konferenzerinnerungen kommen praktisch nur Thermoskannen vor. Mittags im Restaurant stehen dann nicht nur Cola oder Fanta zur Wahl, sondern vor allem Kvas – ein wunderbar malzig-süßes Getränk. Und abends endet der Tag beispielsweise mit den bei uns recht unbekannten Pelmeni, Teigtaschen die so lecker sind, dass sie es locker mit den deutschen Maultaschen aufnehmen.

Jede Menge Formeln durch die Gehirnwindungen gejagt

Heimatlicher wird es erst wieder, wenn man das liebenswert-ungeschickte Verhalten der theoretischen Physiker beim Vortrag beobachtet. Da leuchtet der Laserpointer ins Publikum statt auf die Leinwand, die Powerpoint-Präsentation will einfach nicht zur nächsten Folie wechseln und der Zeigestab ist viel zu kurz, sodass der Vortragende auf und ab springt. Näher an die Lampe zu treten und den Schatten zu verlängern, war ihm wohl gerade nicht eingefallen …

Zu der Mischung von Bekanntem und Neuem passte schließlich auch der Vortrag eines Physikers, der in Tadschikistan geboren ist, aber ebenfalls in Heidelberg am Institut für Theoretische Physik arbeitet. Alexej Weber hatte sich an ein Thema gewagt, das Physikern seit den 70er Jahren als "zu kompliziert" erschienen war. Der Titel seines Vortrags lautete "Critical Behavior of a General O(n) symmetric Model of two n-Vector Fields in D=4-2ε". Nachdem er während seiner Präsentation jede Menge Formeln durch unsere Gehirnwindungen gejagt und die mathematisch versierten russischen Physiker am Ende genickt hatten, fragte ich ihn, ob er für die Leser von Spektrum in einem Satz sagen könnte, was er denn gemacht hätte.

"Naja, es geht um die Vereinigung zweier Theorien", meinte er. Besonders anschaulich war das Folgende aber nicht. Selbst eine theoretische Physikerin, so steht jetzt jedenfalls fest, kann in 4 minus 2 * ε Dimensionen mal abgehängt werden. Aber den Titel wollte ich Ihnen trotzdem nicht vorenthalten. Alexej erklärte mir wenigstens noch dieses: "Das sind eben 4 minus ein bisschen, also nah an den 4 Dimensionen, aber noch nicht ganz drei." Ich hoffe, jetzt ist es Ihnen klarer.

Immerhin aber endete die Konferenz nach diesem gestrigen Tag mit einer herrlichen Bootsfahrt auf der Wolga: Gut versorgt mit russischem Bier fuhren wir in den Sonnenuntergang. Zum endgültigen Abschluss der Veranstaltung am heutigen Freitag überrreichte man Dimitrij Shirkov Blumen, und befreundete Forscher aus aller Welt umrahmten das Ereignis mit vielen Anekdoten.

Wenn theoretische Physiker nach einem langen Leben im Reich der mathematischen Modelle von Liebe und Freundschaft sprechen, wird es still im Hörsaal und man ist als Zuhörer ganz eigentümlich ergriffen.

Und so möchte ich meinen Konferenzbericht mit den Worten Shirkovs beschließen, der ganz zuletzt noch einmal das Wort ergriff. Vor jeder Physik, vor jeder Diskussion, stünde, so sagte er, stets eines, das wichtiger und größer sei als alle Theorie: nämlich die Freundschaft.

Vera Spillner

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