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Mathematische Knobelei: Eine echte Milchmädchenrechnung

Der Satz des Pythagoras stammt gar nicht von jenem Herrn, und auch sonst sieht es düster aus in seiner Schule im süditalienischen Kroton. Nicht nur, dass einige Schüler heimlich Bohnen essen - selbst die Welt der vollkommenen Dreiecke, Kreise und Quadrate lehnt sich auf gegen die Erkenntnis von der allumfassenden Harmonie der Zahlen.
Das hatte Miniapollos sich ganz anders vorgestellt. Wie hatten seine Eltern, Freunde und Nachbarn geschwärmt: Das Oxford und Cambridge der Antike sollte es sein. Reformfreudiger als jede Behörde. Innovativer als ein Großkonzern. Und aufgeschlossener als jedes Alpendörflein. Doch kaum hatte er bei seiner Ankunft an der Pythagoras Highschool schwungvoll über den Gartenzaun gesetzt - im Augenwinkel stets darauf achtend, ob die schönen Bauernmädchen von nebenan ihn auch bemerkten -, da gab es schon den ersten Rüffel: Ein Pythagoräer steigt nicht über Zäune! Und das war nur der Anfang. Ein Pythagoräer wandert nicht auf der Landstraße! Ein Pythagoräer bricht das Brot nicht! Ein Pythagoräer tut dies nicht und macht das nicht! Vor allem aber: Ein Pythagoräer isst keine Bohnen!!!

Okay, hatte Miniapollos sich gedacht. Da muss man halt durch. Dafür gibt es hier eine Menge zu lernen. Die Gesetze von der Harmonie der Töne zum Beispiel. Oder den Satz des Pythagoras, dem viele Meister eine große, glanzvolle Zukunft prophezeiten, obwohl schon die alten Ägypter ein paar Spezialfälle davon kannten. Ja, und natürlich die geheimen Bedeutungen der einzelnen Zahlen. Den gesamten Kosmos und seine schöne Ordnung repräsentieren sie. Alles lässt sich mit ganzen Zahlen oder Brüchen davon ausdrücken. Kurz: Die antike Welt war hier noch in Ordnung.

Bis gestern. Da hatte Miniapollos es gewagt, in Dreieckskunde eine zunächst harmlos wirkende Frage zu stellen: Welche Länge hat eigentlich die Hypotenuse eines rechtwinkligen, gleichschenkligen Dreiecks, wenn die Katheten jeweils eine Einheit lang sind? Nichts leichter als das, hatte sein Lehrer gelächelt, das rechnen wir doch gleich mal aus. Und er fing an zu kalkulieren. Nach einer Viertelstunde schickte er einen Schüler in die Nachbarklasse, den Lehrer für Quadrate holen. Wenig später den Kollegen für Kreise. Und schließlich Direktor Pythagoras selbst. Nun, an diesem Abend gab es weder Bohnen, noch etwas anderes zu essen - die Herren Lehrer waren immer noch am Rechnen.

Heute morgen hing noch immer der Haussegen fürchterlich unharmonisch schief. Wir sind wohl schon zu tief in die harmonische Wahrheit des Kosmos vorgestoßen, sprach Pythagoras ein Machtwort. Was wir brauchen, ist ein Neuanfang von ganz vorne. Mit der reinen Leere eines unschuldigen Geistes. Und weil gerade ein Bauernmädchen, das vom Melken zurückkam, am Fenster vorbeiging, hieß der Meister einen Schüler, sie hereinzubitten. Auf ihr von irreführenden Lehren unverdorbenes Wissen wollten die Lehrer ihr neues Denken aufbauen.

Als das Milchmädchen schüchtern die Schule betrat, bot Pythagoras persönlich ihr einen Schemel zum Sitzen an. All seine Lehrer und Schüler hatte er zum Schweigen verpflichtet, damit sie der kosmischen Offenbarung nicht durch barbarisches Wissen hineinredeten. Zunächst ließ er das Mädchen zählen, soweit sie konnte (das war bis vier), dann zeigte er ihr verschiedene Dreiecke, Kreise und Vierecke. Als er ihres Entzückens ob all dieser strengen Eleganz gewahr wurde, stellte der Meister ihr einige Aufgaben. Während sie sich redlich mühte, klug klingende Antworten zu geben, nutzten Miniapollos Augen die unerwartete Gelegenheit, mit Hingabe die natürlichen Kurven der Magd zu diskutieren.

Seine Aufmerksamkeit wandte sich erst wieder der abstrakteren Mathematik zu, als das Milchmädchen kichernd meinte, diese Frage sei doch selbst für sie zu einfach. In den Sand am Boden hatte Pythagoras einen Halbkreis gezeichnet, in den ein Quadrat einbeschrieben war. Wenn er den halben Kreis nun erweitert, sodass er vollständig ist, wollte er wissen, wie viel größer wäre dann das Quadrat, das eben gerade in den Kreis hineinpasste? Natürlich doppelt so groß wie zuvor, dozierte das Mädchen, denn der Kreis sei ja ebenfalls auf das Doppelte angewachsen. Mit strengem Blick brachte Pythagoras das Räuspern und Husten seiner Lehrerschaft zum Schweigen. Aus so reinem Munde könne nur die Weisheit des Universums sprechen, war er überzeugt.

Miniapollos hingegen kam zu einer anderen Überzeugung: Eine Schule, in der es keine Bohnen zu essen gab und Milchmädchen die Gesetze der Mathematik festlegten, war nichts für ihn. Morgen würde er abreisen. Auf Sizilien sollte eine Zweigstelle der Schule des Dionysos aufgemacht haben, hatte er gehört. Vielleicht könnte man dort auch nicht mehr lernen, aber Spaß hatte man allemal. Nur das echte Verhältnis der beiden Quadratflächen, das hätte er doch zu gerne noch gewusst.
Sei r der Durchmesser des (Halb-)Kreises, a die Kantenlänge des großen Quadrats und b die des kleinen. Dann gilt für die Fläche des großen Quadrats:

F1 = a²

wobei sich a über den Satz des Pythagoras durch r ausdrücken lässt:

2a² = (2r
a² = 2r²

Also ist die Fläche des großen Quadrats:

F1 = 2r²

Die Kantenlänge des kleinen Quadrats b lässt sich ebenfalls über Pythagoras durch r ausdrücken:

b²+(b/2)² = r²
b² = 4/5r²

Damit ist die Fläche des kleinen Quadrats:

F2 = b = 4/5r²

Das Verhältnis der Quadrate ist dann:

F1/F2 = 2r²/(4/5r²) = 5/2 = 2,5 Eine echte Milchmädchenrechnung - Lösung

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