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Mathematische Knobelei: Matrix 3,1416 - Evolutionen

Die Welt ist nicht so, wie sie scheint. Traum und Realität, Fiktion und Wahrheit haben fließende Übergänge. Wer allzu oft zwischen ihnen wechselt, kann sich darin verlieren. Das musste schon der dänische Märchenerzähler Hans Christian Andersen im Jahre 14 v.d.K. (vor dem Kino) leidvoll erfahren. Auch wenn er der Auserwählte sein sollte - alleine findet er nicht zurück in das, was er für die Wirklichkeit hält.
"Willkommen zurück, Mr. Andersen. Wir haben Sie vermisst."
Ein zynisches Lächeln verbreitete sich über das Gesicht des Mannes, der da plötzlich wie aus dem Nichts vor Hans Christian Andersen aufgetaucht war. Er war groß und kräftig gebaut. In seinem tadellosen Nadelstreifenanzug hätte er wie der Geschäftsführer eines weltweit agierenden Handelskonzerns ausgesehen, wäre da nicht diese dunkle Sonnenbrille gewesen. Sie verlieh ihm eine gefühllose, kalte Erscheinung, die ihn geradezu unmenschlich wirken ließ. Mit betont gleichförmiger Stimme, jede Silbe exakt intonierend und ein wenig zu sehr in die Länge ziehend, fuhr er fort. "Sie wirken verstört, Mr. Andersen. Sollten Sie etwa vergessen haben, wer ich bin? Was Sie mir angetan haben?"
Mit einer fließenden Handbewegung nahm der Mann im Anzug langsam die Sonnenbrille ab. Ein Paar eisblauer Augen kam zum Vorschein.
"Du bist... der Kaiser", murmelte Hans Christian Andersen erstaunt. "Aus meinem Märchen ‚Des Kaisers neue Kleider'. Wie ist das möglich?"
"Nun, Mr. Andersen. Wie Sie sehen, ist es möglich. In der Tat war ich der Kaiser. Doch inzwischen ist viel Zeit vergangen. Die Dinge haben sich geändert, Mr. Andersen." Er setzte sich die Sonnenbrille wieder auf. "Ich würde es vorziehen, wenn Sie mich in Zukunft mit ‚Mr. Smith' anreden würden."

"Das muss ein Traum sein." Der Dichter rieb sich die Augen, blinzelte - doch der Kaiser im Nadelstreifenanzug, alias Smith, war immer noch da. Und es war noch jemand hinzugekommen. Neben ihm stand, kaum größer als ein Handy im zusammengeklappten Zustand, ein Männlein, ebenfalls mit Sonnenbrille.
Hans Christian Andersen blinzelte erstaunt, dann beugte er sich ein wenig herab.
"Däumling?", fragte er.
"Ich bevorzuge den Namen ‚Orpheus'. Immerhin passe ich in jedes Mauseloch", gab das Männlein zur Antwort. "Und du bist Novus - der Auserwählte. Du wirst uns alle aus dieser jämmerlichen Fantasie erretten."
"Wie kommst du darauf, dass ich das kann?", fragte Hans Christian ‚Novus' Andersen. "Ich weiß ja nicht einmal, wie ich selbst hier wieder wegkomme."

"Sehen Sie, Orpheus. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Mr. Andersen uns nicht helfen kann. Wirklich schade." Die Stimme von Mr. Smith ließ keinerlei Gefühlsregung erkennen.
"Ich vertraue auf das, was der Zinnsoldat gesagt hat."
"Der Zinnsoldat?" Für Novus ergab die Situation immer weniger Sinn. Der winzige Orpheus nickte.
"Der Zinnsoldat hat Zugang zur Orakel-Datenbank. Er wusste, dass Sie erscheinen werden."
"Anscheinend sind sie zu gutgläubig, Orpheus", tadelte ihn der Smith-Kaiser. "Sonst wäre Ihnen bewusst, dass der Zinnsoldat nur noch Unsinn sabbelt, seit er sich in diese Papiertänzerin verliebt hat. Wie hieß sie doch gleich...?"
"Einfältigkeit."
"Richtig, was für ein seltsamer Name."
"Soweit ich informiert bin, ein recht gewöhnlicher Frauenname bei den Origamiten."

"Entschuldigen Sie bitte", unterbrach Hans Christian ‚Novus' den Disput. "Aber haben wir denn nicht wichtigere Probleme zu lösen?"
Mr. Smith und Orpheus wandten ihre Köpfe und blickten durch ihre Sonnenbrillen zu dem Dichter.
"Sie haben natürlich Recht, Mr. Andersen", sagte Mr. Smith. Blitzschnell schlug er mit der Faust dem verdutzten Novus in die Magengrube und durchstieß dabei die Bauchdecke. Eine Welle metallischer Kälte breitete sich durch Novus' Körper aus. Sie erfüllte den Rumpf, wanderte weiter zu den Armen und Beinen, schickte sich an, seinen Kopf zu erreichen und seinen Geist zu erobern. Da zog Mr. Smith die Faust wieder aus ihm heraus. In der Hand hielt er eine Mehrwegflasche eiskalte Cola.
"Auch eine?" Fragend blickte er Novus an.
"Nein, danke."
"Da ist kein Öffner", flüsterte Orpheus geheimnisvoll.

"Nun, Mr. Andersen, wenn Sie diese Geschichte ernsthaft retten wollen, werden Sie uns wieder verlassen und unsere Märchen nach unseren Vorstellungen umschreiben müssen." Geduldig bog Mr. Smith den Kronkorken der Cola-Flasche Stück für Stück mit seinen Fingernägeln auf.
"Aber ich weiß ja nicht einmal, wie ich hier hergekommen bin." Novus Andersen rang verzweifelt die Hände.
"Wir müssen zum Wolpertinger", bemerkte Orpheus. "Wie der Nussknacker es orakelt hat."
"Wolpertinger? Der stammt aber aus keinem meiner Märchen."
"Nein, der war schon immer hier. Es gibt in dieser Welt alle möglichen Formen von Märchengestalten."
"Und wo finden wir diesen Herrn?"
"Wir stehen direkt vor seinem... ähem... Etablissement."


"Ah, Bonjour, Messieurs. Isch abe Sie erwartet. Bitte nehmen Sie doch Platz." Ein vertrockneter, älterer Mann begrüßte sie mit unverhohlener Arroganz.
"Da ist kein Stuhl", wisperte Orpheus. Novus beachtete ihn nicht.
"Wir sind hier, weil ich wieder in die wirkliche Welt zurück möchte", kam er sofort zur Sache.
"Natürlisch. Das wollen viele. Sie aben bloß keine Schimmer, wie. Nur isch weiß den Weg."
"Dann verraten Sie ihn mir."
"Und was bekomme isch dafür?"
"Was Sie haben wollen."
"Oui, dann können wir ins Geschäft kommen." Der französische Wolpertinger legte ein Blatt vor sich auf den Tisch.
Matrix 3,1416 - Evolutionen
"Sehen Sie diese Tabelle? Dabei andelt es sisch um eine Additionstabelle der Zahlen von 1 bis 10. Aus jeder Spalte und Zeile des Summenblocks soll man genau eine Zahl wählen, sodass deren Summe minimal wird. Meine Frage an Sie lautet also: Welche Zahlen soll isch nehmen?"
"Das ist alles? Dafür verraten Sie mir den Weg in die Wirklichkeit?"
"Aber selbstverständlisch. Märschenfiguren sind nischt sonderlisch gut in Mathematik. Und es gibt einen schönen Preis zu gewinnen. Vielleischt abe ich Glück."

Novus, alias Hans Christian Andersen, besah sich das Blatt mit der Tabelle. Die Aufgabe erschien ihm nicht sonderlich schwierig. Doch irgendwie war ihm, als höre er ständig den Orakelspruch des standhaften Zinnsoldaten in seinem Ohr: Wie man auch wählt - niemand kann seinem Schicksal entgehen.
Wie man es auch dreht und wendet, wenn man, wie gefordert, aus genau jeder Zeile und Spalte des Summenblocks eine Zahl zu wählen hat und diese addiert, kommt stets 110 heraus - einerlei, in welcher Reihenfolge Spalten und Zeilen gewählt werden. Also ist auch das Minimum 110.

Woran liegt das? Nun in einer beliebigen Zelle der Additionstabelle steht offenbar immer die Summe aus Zeilen- und Spaltennummer. Da beim Addieren dieser Zellen jede Zeile und Spalte genau einmal verwendet werden soll und die Reihenfolge der Zahlen bei der Addition keine Rolle spielt (Kommutativgesetz), können wir auch zunächst alle Zeilennummern addieren und anschließend dazu alle Spaltennummern hinzuzählen:

Für die Zeilen: 1+2+3+...+9+10=55
Für die Spalten: 1+2+3+...+9+10=55
-------------------------------
Summe 110

Die Summe ist also stets 110.

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