Direkt zum Inhalt

Mathematische Knobelei: Das Spiel der Götter

Störe meine Murmeln nicht! Wenn die Götter wetten, steht das Wohl der Menschheit auf dem Spiel. Dabei ginge es uns vielleicht am besten, wenn sie sich nicht darum kümmerten, was wir auf Erden tun.
„Ich mache mich schon nicht schmutzig, Mama!“ Göttlicher Schmollmund im pausbackigen Gesicht. Ist doch wahr. Da amüsiert sich dieser blöde Prometheus wieder mit seinen Lehmfiguren, und der kleine Zeus soll auf seine Klamotten aufpassen. Na warte - das kann man ihm vermiesen.

„Igitt, du spielst ja mit Dreck“, schimpft Klein-Zeus mit gerümpfter Nase.
„Ist gar kein Dreck“, zetert Prometheus dagegen. „Sind total tolle Figuren: weise Männer, schöne Jungfrauen und starke Helden.“
„Pah, Helden. Klumpen aus Lehm, mehr nicht.“
„Sieh mal: Ich hab' sogar eine Seeschlange und einen Minotaurus. Ganz neu von meinem Papa.“
„Mein Papa schenkt mir viel bessere Spiele. Hier: 100 bunte Murmeln.“
„Zeig her.“
„Nix da. Du verbummelst bestimmt welche.“
„Mach ich nicht.“
„Machst du doch. Den Deckel von der Pandora ihrer Büchse hast du auch verloren. Beinahe hätten wir den nicht wiedergefunden.“
„Das war ich gar nicht. Das war die Hera. Die hat ihn in den Briefkasten geworfen. Außerdem hat Hermes ihn da doch gefunden.“
„Jedenfalls kriegst du meine Murmeln nicht.“
„Dann lass mich wenigstens mitspielen.“
„Und was hab ich davon?“
„Du darfst auch mit meinen Figuren spielen. Du kannst sogar die Seeschlange nehmen.“
„Deine Dreckfiguren - mit denen will ich gar nicht spielen.“
„Ist kein Dreck.“
„Ist es doch. Weißt du was? Wir spielen mit meinen Murmeln. Wenn du gewinnst, darfst du sie behalten.“
„Auja, gib her.“
„Aber wenn ich gewinne, darf ich deine Figuren alle kaputtmachen.“
„Was? Du willst sie kaputtmachen? Meine schönen Helden und Jungfrauen?“
„Und alle anderen auch. Aber wenn du zu feige bist, können wir es auch sein lassen.“
„Ich bin nicht feige. Los, wie sind die Regeln?“

Einfach sind die: Zeus teilt seine Murmeln auf: 52 für sich und 48 für Prometheus (göttliche Gerechtigkeit hat ihre eigenen Maßstäbe). Abwechselnd werfen die beiden eine Murmel auf eine Mauer zu. Wessen Kugel dichter daran zu liegen kommt, der gewinnt die Runde. Sind beide gleich weit entfernt, gewinnt derjenige, der zuerst geworfen hat. Der Verlierer muss die Hälfte seiner Murmeln dem Gewinner geben. Hatte er eine ungerade Anzahl, ist das Spiel beendet, denn Zeus will seine Glaskugeln nicht durchschneiden oder sonstwie zerstören.

Spiel und Schicksal nehmen ihren Lauf. In ihr Tun vertieft spielen die beiden kleinen Großen Runde um Runde. Mitunter entlädt sich die Spannung in winzigen Blitzen in Zeus' Haar. Aufgeregt zündelt Prometheus mit dem Feuerzeug seines Vaters. Derweil entwickeln die Lehmfiguren unbeachtet ein Eigenleben: entführen einander die Jungfrauen, segeln auf dem Meer des kleinen Weihers, errichten Labyrinthe und Schlösser, führen Kriege, besiegeln und brechen Pakte, erfinden die Thermosflasche und vergessen ihre Götter, vernetzen ihre Computer und lösen mathematische Rätsel. Und wissen nicht, dass über ihnen das Verhängnis schwebt, wenn Zeus beim Murmelspiel gewinnen sollte. Oder was im Falle eines Sieges von Prometheus geschieht, sobald er von ihrer Eigenmächtigkeit erfährt. Am besten, das Murmelwerfen würde ewig andauern. Aber geht das? Gibt es eine Folge von Runden, bei denen weder Zeus noch Prometheus endgültig gewinnen?

Das Wohl der Menschheit hängt an einem extrem dünnen Faden! Wenn nur ein Murmelwurf aus einer beliebig langen Folge von Würfen nicht genau richtig ausgeht ("richtig" aus der Perspektive von uns Lehmfiguren), ist es vorbei mit dem Leben, der Seefahrt, der Liebe und den mathematischen Knobeleien. Gut, dass Göttervater Kronos gerade milde gestimmt ist und mit seiner ganzen Allmacht den Weg der Murmeln so lenkt, dass die beiden Knäblein friedlich im Dreck spielen und ihn mit seiner Tyche in Frieden lassen.

Am besten richtet Kronos es so ein, dass das Spiel immer wieder dieselbe Folge von Situationen durchläuft; denn dann kann es beliebig lange fortgehen. Außerdem ist es gut zu wissen: Wenn die Anzahl der Murmeln, die ein Spieler in der Hand hat, eine Zweierpotenz ist, dann kann er eine gewisse Anzahl von Malen verlieren, ohne dass die Menschheit um ihre Existenz fürchten muss. Wenn sein Vorrat dann auf 4 Murmeln abgesunken ist, wird es allerdings brenzlig. Besser, er gewinnt mal wieder und erhält 48 von den 96 Murmeln seines Gegners. Dann steht es 52 zu 48 - und das hatten wir doch schon!

Unter Verwendung dieser Hilfsgedanken findet man die Lösung jetzt mit etwas Probieren. Bezeichnen wir mit (p,z) die Spielsituation, in der Prometheus p Murmeln hat und Zeus z Murmeln. Schreiben wir hinter diese Situation, wer gewinnt, dahinter die neue Situation und so weiter, so erhalten wir eine übersichtliche Darstellung des Spielverlaufs.

Es ist zum Beispiel schlecht, wenn Prometheus das erste Spiel gewinnt:
(48,52) P (74,26) ...
Einerlei, wie es weitergeht, es gibt ungerade Murmelzahlen.
(48,52) Z (24,76) P (62,38) endet ebenso in der Katastrophe.
(48,52) Z (24,76) Z (12,88) Z (6,94) - aus!
...
(48,52) Z (24,76) Z (12,88) P (56,44) Z (28,72) Z (14,86) - aus!
(48,52) Z (24,76) Z (12,88) P (56,44) Z (28,72) P (64,36)
Das ist schön: Prometheus hat die Zweierpotenz 64 und kann eine Pechsträhne vertragen. So geht's weiter:
(64,36) Z (32,68) Z (16,84) Z (8,92) Z (4,96)
Zeus will schon nach den Lehmfiguren grapschen, aber Prometheus gewinnt:
(4,96) P (52,48),
und ab jetzt spielen die süßen Knäblein dasselbe Spiel wie eben mit vertauschten Rollen, bis sie wieder bei (48,52) angelangt sind, und so weiter in alle Ewigkeit - es sei denn, Kronos passt nicht auf.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.