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Mathematische Knobelei: Olympisches Ausweichstadion

Krisenstimmung im Internationalen Olympischen Komitee. Natürlich reicht die Anzahl der Hotelbetten nicht aus für die erwarteten Besucher, natürlich verschlingen die Vorbereitungen mehr als das Dreifache der veranschlagten Kosten, und natürlich wird ein bedeutender Teil der Stadien und sonstigen Sportanlagen nicht rechtzeitig zur Eröffnung der Spiele fertig. Die üblichen Dramen also, doch dieses Mal hofft man, mit kreativen Maßnahmen das drohende Chaos abzuwenden.
"Was für ein schöner Urlaub das doch war", denken Herr und Frau Knösel gemeinschaftlich seufzend, als sie endlich ihre beiden quengelnden Kleinen mit tatkräftiger Unterstützung der zwei Stewardessen und des herbeigeeilten Copiloten in ihren Sitzen festgeschnallt haben. "Wie gut, dass bald Wochenende ist und wir uns von den Ferien erholen können."

"Was für ein schönes Haus hier doch einmal stand", denken Knösels fünf Stunden später, während sie dort aus dem Taxi steigen, wo sie bis vor kurzem zu Hause waren und eigentlich auch noch zu sein geglaubt hatten. Paul Knösel blickt nach links, Erna Knösel schaut nach rechts. Die Straße ist richtig, die Nachbarhäuser stehen noch und blicken bieder verschwiegen vor sich hin. "Du, Papa. Wo ist eigentlich unser Haus abgeblieben?", fragt Sohnemann Knösel. "Ja", sagt der Papa nur.

"Da hat es wohl einen Planungsfehler gegeben", sagt der Beamte im Baudezernat. "Sehen Sie: Wenn man den Plan so herum hält, dann sind rechts unten die Sportanlagen. Da sollten die neuen Stadien hin. Dreht man die Karte aber um 90 Grad, dann liegt rechts unten ihr Haus. Und da bauen wir die Stadien jetzt. Kann man nichts machen." "Ach", sagt Frau Knösel. "Unter uns", der Beamte zwinkert Knösels verschmitzt zu. "Wir hatten uns auch schon gewundert, warum da so wenig Platz ist. Immerhin sollen dort vier Sportanlagen hinpassen. Außerdem stand da noch ein Haus drauf, aber das ist ja inzwischen weg."

"Kalle, rutsch mal zur Seite, und nimm deine Bierflaschen vom Tisch. Du hast Gäste", sagt der Bauleiter zu dem Mann im Unterhemd. "Das ist Familie Knösel. Denen gehört das Grundstück hier, auf dem wir die Stadien bauen. Die Stadt hat angeordnet, dass sie erstmal in deinem Bauwagen wohnen sollen, bis wir ihnen ein Zelt besorgt haben." Erna Knösel lächelt verlegen. "Ein Familienzelt", wirft Paul Knösel ein. Kalle kratzt sich.

"Sie können sich nicht vorstellen, was für Probleme wir zu lösen hatten", erklärt der Architekt Herrn Knösel. "Ihr Grundstück ist ja quadratisch mit nur 24 Metern Kantenlänge. Und da sollen vier Wettbewerbe mit völlig unterschiedlichen Ansprüchen drauf stattfinden. Kaum zu schaffen, sag ich Ihnen." Mit der linken Hand weist er auf einen Wimpel, die rechte beschreibt einen Bogen. "Am einfachsten war noch die Bahn fürs Eckenrechnen. Die läuft außen herum. In jeder Ecke eine Aufgabe, das geht schon. Schwieriger wurde es bei der Anlage für Cross-Blindekuh. Dafür mussten wir eine Diagonale quer über das ganze Gelände ziehen, von der Ecke hinten links nach vorne rechts. Seien Sie vorsichtig: Wir haben bereits die Fallgruben ausgehoben und die Stolperleinen gespannt." Beunruhigt schaut Frau Knösel ihrem Töchterchen nach, das soeben kopfüber von der Bildfläche verschwindet.

"Kirschkerndreispuck!" Kalle weiß, was er hier baut. "An der rechten Quadratkante acht Meters nach oben. Von dort aus gerade rüber zur Ecke vorne links. Das gibt so'n kleines Dreieck. Darin spucken sie die Kerne. Könnt' glatt `n neuen Rekord geben. Weißt du, ich kenn' mich da nämlich aus, mit dem Kirschkerndreispuck. War früher selbst mal aktiv. Landesmeister." Knösel-Sohnemann weiß nicht. Ihn interessiert mehr das Eckenrechnen. Seine Schwester steht auf Cross-Blindekuh und hat sich wieder heimlich aufs Feld geschlichen.

"Oh, Synchronangeln findet auch hier statt?" Paul Knösel vermag seine Begeisterung kaum zu verbergen. Schon immer hat ihn die raue Grazie dieser Disziplin fasziniert. Selbst seine Frau hat die Übertragungen der Meisterschaften im Fernsehen stets mit großer Freude verfolgt, obwohl ihre Blicke insgeheim mehr den athletisch geformten Männerwaden der Teilnehmer galten. Die Grube für den Teich befindet sich im unregelmäßigen Viereck, das hinten rechts von den beiden Diagonalen, der oberen Quadratkante und dem oberen Teil der rechten Kante gebildet wird. Dort, wo früher das Wohnzimmer, die Küche und die Spielwiese gewesen waren. "Was für eine Fläche hat denn der Teich?", fragt Paul Knösel mit Kennermiene. Doch da ist der Architekt schon weg, unterwegs zur nächsten Baustelle. Schließlich muss alles rechtzeitig fertig werden zur Eröffnung der olympischen Spiele. "Ob wir wohl Freikarten für das Finale bekommen können?", überlegt Erna Knösel. "Ich meine, falls es dem Komitee und der Stadt nicht zu viel Umstände macht."

Die Sache mit den Freikarten wird Familie Knösel selbst aushandeln müssen. Aber die Fläche des Teichs für das Synchronangeln können Sie doch sicherlich für Herrn Knösel berechnen, oder?
Die Olympischen Spiele in Athen neigen sich ihrem Ende entgegen, und damit wird es höchste Zeit, endlich unsere olympische Knobelei aufzulösen. Ob Strahlensatz, Integralrechnung, Dreiecksformel - viele Wege haben diesmal zur Lösung geführt. Wir haben mal ein wenig mit Geradengleichungen gerechnet.
Zu Berechnung der Vierecksfläche bestimmen wir zunächst den Flächeninhalt des gesamten quadratischen Grundstücks ziehen davon die Hälfte ab, da die Diagonale des Cross-Blindekuh die Fläche genau halbiert. Nun fällt nur noch die Fläche des kleinen Dreiecks, das von der rechten Kante und den beiden Diagonalen aufgespannt wird. Eine Seitelänge haben wir mit 8 Metern bereits. Fehlt nur noch die Höhe auf dieser Seite. Um diese zu berechnen, denken wir uns das Grundstück in ein kartesisches Koordinatensystem eingezeichnet, dessen Ursprung in der linken vorderen Ecke des Grundstücks liegt. Beschreiben wir die beiden Diagonalen jeweils durch eine Geradengleichung und berechnen wir damit die Abszisse des Schnittpunkts. Für Gleichung g1 gilt: g1: y=24-x

Die Geradengleichung g2 lautet:

g2: y=1/3x

Gleichsetzen liefert die Abzisse des Schnittpunkts:

24-x=1/3x
x=18

Die gesuchte Höhe auf der Dreicksseite hat also eine Länge von 6 Metern. Damit ergibt sich für die gesuchte Fläche:

1/2·242-1/2·8·6=264

Der Teich überdeckt also eine Fläche von 264 Quadratmetern.

Eine besonders schöne Lösung hat uns Bernhard Heilmann aus Köln geschickt. Aber lesen Sie selbst!

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