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Mathematische Knobelei: Knobelsteins Monster

Dumpfe Donner grollen durch das Tal. Grelle Blitze zucken vom Himmel. Endlich. Heute ist der Tag. Heute werden die ungezähmten Urgewalten Knobelsteins Geschöpf Leben einhauchen. Alles ist vorbereitet, wartet nur auf diesen Moment. Ein paar Schalter noch, dann werden Milliarden unbegrenzter Integrale durch die Adern der Kreatur fließen. Ein kleiner Schritt - auf glitschiger Treppe. Mit dem Hinterkopf schlägt Knobelstein auf die Stufe und verliert das Bewusstsein. Wird sein treuer Gehilfe, der abgeleitete Igor, das Experiment alleine zum Ziel führen können?
Meister? Meister, ist euch nicht wohl? Meister? Oh, Blut! Alles voll Blut. Die Treppe voller Blut. Da wird Igor viel schrubben müssen. Den ganzen Vormittag auf den Knien. Oh, arme Knie. Igors arme, geschundene Knie.

Meister, seht. Ich hebe euch den Kopf an. Seht das Geschöpf. Es wartet, Meister. Ihr müsst seine Schalter kippen, damit es leben kann. Sind so viele Schalter. Igor hat sie gezählt. Sind genau 1024 Schalter. Oh ja, Igor kann zählen. Viele Zahlen, große Zahlen. Igor ist nicht dumm. Nur ein wenig abgeleitet, nicht weggekürzt.

Soll Igor die Schalter für euch umlegen, Meister? Igor kann das tun. Igor hat euch oft dabei zugesehen. Igor sieht euch immer zu, Meister. Auch wenn Ihr euch unbeobachtet fühlt. Igor sieht alles. Wie ihr dem Geschöpf die Axiome angenäht habt. Wie Ihr seine Summanden addiert habt. Und auch wie Ihr euch an seinem Differenzial zu schaffen gemacht habt. Igor sieht. Igor lernt. Igor kann die Schalter bedienen.

Wie war die Regel für die Schalter, Meister? Oh, eine sehr schwere Regel. Denk nach, Igor. Denk nach. Zuerst den Schalter mit der 1, nicht wahr, Meister? Ja, die 1. Igor weiß es nun wieder. Igor legt jetzt den Schalter 1 um. Ein schöner Schalter. Mit blitzendem Metall und glattem Ebenholz. Igor hätte auch gerne so einen schönen Schalter. Aber erst muss Igor weiter arbeiten.

Welchen Schalter als nächstes, Meister? Nicht den zweiten. Das weiß Igor. Der zweite Schalter ist nicht dran. Später. Der zweite Schalter kommt später. Jetzt bleibt er noch aus. Igor ist schlau. Kann sich an die Regel erinnern. So eine schwere Regel. Aber Igor macht es richtig. Drei! Ja, Schalter 3 ist dran. Igor wird euch nicht enttäuschen, Meister. Er legt nun den dritten Schalter um.

Igor weiß die Regel, Meister. Einen Schalter auslassen und dann den nächsten schalten. Ihr werdet stolz sein auf Igor. Alle Schalter in der Reihe geht Igor so durch. Nur die Richtigen legt er um. Igor ist schlau. Nicht dumm. Das sagen nur böse Menschen, Meister. Igor ist nicht dumm. Hat sich die schwere Regel gemerkt.

Oh, Meister. Die Reihe ist zu Ende. Aber Igor hat doch noch nicht alle Schalter umgelegt. Was soll Igor nun machen, Meister? Es müssen doch alle Schalter auf Ein stehen. Aber welcher kommt nun? Die Reihe ist durch. Ach, diese schwere Regel. Was muss Igor am Ende der Reihe tun?

Ja! Igor weiß wieder. Von vorne. Igor muss von vorne anfangen. Den ersten Schalter, der nicht an ist. Den muss Igor umlegen. Und dann wieder einen unbenutzten Schalter auslassen. So eine schwere Regel. Aber Igor hat sie verstanden, Meister. Seht, wie Igor ein zweites Mal durch die Reihe geht und nur jeden zweiten auf Aus stehenden Schalter kippt.

Und noch einmal, Meister. Igor geht wieder durch die Reihe. Wieder und wieder, bis nur noch ein Schalter übrig ist. Es ist der wichtigste Schalter, Meister. Igor weiß das. Wenn Igor diesen Schalter umlegt, werden die Integrale fließen. Aber nur, wenn es der richtige Schalter ist. Sonst geht alles kaputt, und der Meister wird Igor davonjagen. Igor will nicht, dass der Meister ihn davonjagt. Igor will im Schloss bleiben. Igor darf nun keinen Fehler machen.

Der letzte Schalter. Igor hat die Regel genau befolgt. Nur ein Schalter ist nun übrig. Es muss der Richtige sein. Aber welche Nummer muss dieser Schalter haben? Meister, Igor hat die ganze Arbeit gemacht. Nun sagt ihm doch wenigstens, welche Nummer der letzte Schalter haben muss. Meister!
Wer vor lauter Schaltern die Lösung der mathematischen Knobelei nicht finden konnte, dem sei nun endlich geholfen. Wir lösen das Rätsel um Knobelsteins Monstermaschine auf, und benennen wie jeden Monat die Gewinner.
1024 Schalter sollen betätigt werden - zunächst nur jeder zweite beginnend mit dem ersten, dann jeder zweite von den übrig gebliebenen, dann jeder zweite von denen, die nun übrig sind, und so weiter. Die Frage ist: Welcher Schalter wird zuletzt umgelegt?

Gehen wir Schritt für Schritt vor. Beim ersten Mal werden 512 Schalter betätigt - die Hälfte von 1024. Es sind die Schalter 1, 3, 5 bis 1023, die ungeraden Zahlen also. Was passiert in der zweiten Runde?

Da auch nun wieder nur die Hälfte der bislang unbenutzten Schalter betätigt wird, sind es nun 256 Hebel, die Igor bewegen muss. Angefangen mit 2, ist die nächste Zahl 6, denn die 4 müssen wir auslassen. Wir kommen auf die Folge: 2, 6, 10 bis 1022.

Weiter geht's mit Runde 3. Nun sind nur noch 128 Schalter umzulegen. Diesmal geht's mit der vorhin ausgelassenen 4 los, die ebenfalls ausgelassene 8 überspringen wir, und nehmen dafür die 12. Die Folge lautet: 4, 12, 20 bis 1020.

Eine Wiederholung machen wir noch, diesmal beginnend mit der 8. Insgesamt sind nun 64 Schalter umzulegen. Die Folge ist in diesem Fall: 8, 24, 40 bis 1016.

Fassen wir die Informationen zusammen:

RundeSchalterFolge der SchalternummernAbstand der Folgeglieder
15121, 3, 5,..., 10232
22562, 6, 10,..., 10224
31284, 12, 20,..., 10208
4648, 24, 40,..., 101616
n210-n2n-1, 2n-1+2n,..., 1024-2n-12n


Wenn wir uns die die Zahlenfolgen genau anschauen, stellen wir ein paar Dinge fest: Zum einen verdoppelt sich die Nummer des jeweils ersten Schalters von Runde zu Runde. Ist es beim ersten Mal die 1, dann ist es beim zweiten Mal die 2, dann die 4, die 8 und so weiter, beim n-ten Mal wird es folglich die Nummer 2n-1 sein. Was ist noch festzustellen?

Der Abstand der Folgenglieder ist innerhalb einer Runde konstant - aber auch er verdoppelt sich mit jeder neuen Runde: 2, 4, 8, 16 und so weiter. Allgemein ist der Abstand der Folgeglieder also durch 2n gegeben.

Da sich die Zahl der umzulegenden Schalter mit jedem Schritt halbiert, kommen wir ausgehend von 512 nach 10 Runden bei einem einzigen Schalter an, der in dieser Runde zu betätigen ist. Und dessen Nummer? Nun, wir haben ja weiter oben schon eine Formel für die jeweils erste Schalternummer pro Runde gefunden. Damit erhalten wir 210 - 1 = 29 = 512.

Ist das die gesuchte Zahl? Nein, noch nicht ganz. Denn wie viele Schalter haben wir bis jetzt bewegt?

Nun, wenn wir die Zahl aller Schalter addieren, die wir in jeder Runde betätigt haben, sehen wir, dass etwas fehlt: 512, 256, 128, 64, 32, 16, 8, 4, 2 und schließlich 1 macht in Summe lediglich 1023. Ein Schalter wurde also ausgelassen. Aber welcher?

Schauen wir uns doch einmal nicht das erste Glied der Folge an, sondern nur die Nummer des letzten Schalters, der pro Runde betätigt wird. Die Folge lautet: 1023, 1022, 1020, 1016 und so weiter. Schauen wir uns die Folge scharf an, dann stellen wir fest, dass das n-te Folgenglied 1024-2n-1 sein muss. Auf dieses Ergebnis kommen wir auch, wenn wir ausgehend von dem ersten Schalter, der die Nummer 2n-1 trägt, 210-n-1 Mal den Abstand 2n zum nächsten Folgenglied hinzuzählen.

2n-1+(210-n-1)2n
= 2n-1+210-n+n-2n
= 2n-1+210-2·2n-1
=1024-2n-1

Da n eine Zahl zwischen 1 und 10 ist, heißt das, dass genau ein Schalter stets unangetastet bleibt: der letzte mit der Nummer 1024. Denn einerlei welches n wir auch einsetzen. Die letzte Schalternummer ist immer kleiner als 1024. So werden also erst alle anderen 1023 systematisch umgelegt bis zu guter Letzt der Schalter mit der höchsten Nummer betätigt wird. Wir wollen uns lieber keine Gedanken darüber machen, welches Mathe-Monster dadurch zum Leben erweckt wird.

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