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Mathematische Knobelei: Das Geißlein und die sieben Wölfe

Achtung! Was nun folgt, ist ein Märchen! In entsprechend verharmlosender Weise berichten diese Zeilen von schwerwiegenden kriminellen Delikten. Sie enthalten verherrlichende Darstellungen von Brutalität, Freiheitsberaubung, Folter und Psychoterror. Bei Erwachsenen mit labilem Gemüt könnte diese Knobelei darum zu unruhigem Schlaf und in schweren Fällen zu dumpfem Grübeln führen.
Es war einmal eine allein erziehende, berufstätige Geiß, die lebte mit ihrer einzigen Tochter in einer renovierungsbedürftigen Zweizimmerwohnung im siebzehnten Stock eines heimeligen Hochhauses. Unter der Woche brachte die Geiß ihr Geißlein frühmorgens in den Kindergarten und fuhr anschließend mit ihrem smarten Miniauto zu einer schicken Werbeagentur, wo sie einen Job als Sekretärin hatte, damit es allabendlich etwas Feines zu futtern gab. Die Geiß war nämlich geschieden, und der Papa von dem kleinen Geißlein bockte ohne schlechtes Gewissen im Königreich auf und ab und ließ in so manchem Ort papalose kleine Geißlein mit ihren unvermittelt doppelt gestressten Mamas zurück.

Als Ausgleich für die viele Müh und Not gönnte sich die Geiß an Samstagen den Besuch einer Beautyfarm mit angeschlossener Wellness-Wiese. Zu Hause gab inzwischen der alte Hütehund von gegenüber auf das Geißlein acht, auf dass es keinen Unsinn machte oder gar einen Fremden in die Wohnung ließ. Doch eines Tages ereilte den Hütehund eine schwere Krankheit. Er schnaufte und hustete, er keuchte und röchelte, er ächzte und stöhnte, bis ihn seine Verwandten schließlich zum Abdecker brachten.

Da stand die arme Mama-Geiß nun am Samstag ohne Betreuung für ihr Geißlein und wollte doch gerne zu ihrer Beautyfarm. "Geißlein!", sprach sie schließlich. "Du bist jetzt schon fünf Jahre alt und beinahe eine große Geiß. Darum fährt deine Mama nun für ein paar Stunden weg und lässt dich alleine zu Hause. Mach keinen Unsinn und vor allem: Lass niemanden in die Wohnung hinein!" Das Geißlein sagte "Mäh!", und die Geiß hüpfte beruhigt in ihr smartes Miniauto und brauste davon.

Noch waren keine fünf Minuten vergangen, da klingelte es an der Wohnungstür. "Mäh! Wer ist da?", fragte das Geißlein ängstlich. "Ich bin es - der Postbote", antwortete eine tiefe Stimme. "Öffne die Tür, damit ich dir einen schönen Brief mit wertvoller Sammlermarke geben kann." Das Geißlein dachte an die Worte seiner Mama, niemanden in die Wohnung zu lassen, doch einer wertvollen Sammlermarke kann kein kleines Zickenherzchen widerstehen - und so öffnete es die Tür.

Mit einem großen Schritt trat ein Wolf herein. Er trug eine schlecht sitzende blaue Uniformjacke, eine schiefe Dienstmütze, und in seiner Brusttasche steckte ein Kugelschreiber, auf dem in großen Buchstaben POST aufgedruckt war. "Nun, du leckeres Geißlein, bist du ganz alleine zu Hause?", fragte er, und suchend blickten seine Augen in die beiden Zimmerchen. "Mäh! Ja, Herr Postbote", fiepte das Geißlein. Da packte der Wolf es an der Kehle und zerrte es mit fletschenden Zähnen hoch in die Luft. "Dann wünsch' mir guten Appetit, denn ich werde dich jetzt fressen", brüllte er. "Mäh! Ich hätte aber lieber einen anderen letzten Wunsch", wimmerte das Geißlein. Der Wolf stockte mit sabbernd offen stehendem Mund. Er dachte einen Moment nach, dann sagte er: "Na schön. Der Tradition halber will ich dir deinen letzten Wunsch erfüllen. Was ist es denn?"

"Mäh! Ich wüsste gerne, welches letzte Stündlein mir geschlagen hat", jammerte das Geißlein. "Aber unsere Standuhr ist kaputt und gibt keinen Ton mehr von sich." "Hoho, wenn es weiter nichts ist", lachte der Wolf. "Im Reparieren von Standuhren bin ich ganz groß." Er setzte das Geißlein auf dem Boden ab, schritt fröhlich pfeifend auf die Uhr zu, öffnete den Uhrkasten und beugte sich vor. Das Geißlein fasste sich ein Herz, gab dem Wolf einen Stoß und schlug hinter ihm die Tür des Uhrkastens zu. Ehe sich der Wolf in der Enge umdrehen konnte, hatte das Geißlein die Klappe mit einem Akkuschrauber fest zugesperrt. "Mäh! Du frisst mich nicht", triumphierte es und streckte dem Wolf die Zunge heraus.

Da klingelte es wieder an der Wohnungstür. "Mäh! Wer ist da?", fragte das Geißlein ein zweites Mal mit ängstlicher Stimme. "Ich bin es - der Milchmann", antwortete es in tiefem Bass. "Ich bringe frische Milch und hole die leere Pfandflasche." Abermals erinnerte sich das Geißlein der Mahnung seiner Mama, doch Milch ist lecker und Umweltschutz wichtig, und so öffnete es die Tür. Im Nu stand ein Wolf in der Wohnung. Gekleidet war er in einen weißen Kittel voller Flecken sowie ein Käppchen auf dem "Grimms Ziegenkäse und Schafsmilch" geschrieben stand. Beim Anblick des Geißleins leckte er sich die Lippen. "Mäh! Ich weiß schon", sagte das Geißlein zu seiner Überraschung. "Sie wollen wissen, ob ich allein zu Hause bin und mich dann auffressen." Der Wolf nickte eifrig mit dem Kopf. "Mäh! Das geht schon in Ordnung. Aber vorher müssten Sie bitte die leere Milchflasche aus unserem Mülleimer in der Küche holen. Da habe ich sie vorhin aus Versehen hineingeworfen, und der Eimer ist zu tief, sodass ich sie mit meinen kurzen Armen nicht selber erreichen kann."

"Wenn es weiter nichts ist", brummte der Wolf. Ungeduldig stürmte er in die Küche, klappte den Mülleimerdeckel hoch und steckte den Kopf samt Oberkörper hinein. Mit Schwung stieß ihn das Geißlein in den Eimer. Es schlug den Deckel zu und hievte geschwind einen Amboss drauf. (Falls Sie nicht glauben mögen, dass im Märchen der Amboss zu den üblichen Küchenmöbeln gehört, dann denken Sie einfach daran, dass hier auch Ziegen und Wölfe reden und letztere sogar zur Tarnung schmuddlige Uniformen tragen - schon erscheint der Amboss gar nicht mehr so unwahrscheinlich.) Voller Genugtuung kickte das Geißlein kräftig von außen gegen den Eimer mit dem heulenden Wolf - da klingelte es zum dritten Mal.

Es kam ein Wolf als Elektriker. Das Geißlein saugte ihn mit dem Staubsauger ein. Den Gasmann-Wolf pumpte es voller Helium, bis er an der Decke schwebte. Den Schornsteinfeger-Wolf sperrte es in den Backofen und stellte auf Grillen. Dem Gerichtsvollzieher-Wolf verklebte es das Fell mit bunten Abziehbildern und mähte fröhlich "Kuckuck!", als es zum siebten Mal klingelte.

"Mäh! Wer ist da?", fragte das Geißlein freudig. "Ich bin es - ein armer Mathestudent, der Nachhilfeschüler sucht", brummelte es zur Antwort. "Mäh! Nur herein", rief das Geißlein und öffnete die Tür sperrangelweit. Schüchtern trat der Wolf näher. Sein Fell war abgewetzt, und unter dem Arm trug er einen Abakus, an dem einige Perlen fehlten. "Mäh! Wir wollen keine Zeit verlieren", polterte das Geißlein los. "Bevor wir zu der Nummer mit dem Fressen kommen, musst du mir ein Matherätsel lösen: Wie viele vierstellige Zahlen mit genau zwei unterschiedlichen Ziffern gibt es?" Ein wenig verdutzt blinzelte der Wolf das Geißlein an, dann setzte er sich auf den Boden und verschob mit wirbelnden Pfoten die Kugeln auf seinem Abakus.

Er hatte noch nicht ganz berechnet, wie groß die Menge der dreistelligen Zahlen mit zwei verschiedenen Ziffern ist und wollte gleich zu den vierstelligen Zahlen übergehen - da stand Mama Geiß in der Tür. Sie erblickte den knobelnden Wolf auf dem Fußboden, den tobenden Wolf im Uhrenschrank, hörte den jaulenden Wolf im Mülleimer, sah das Zappeln im Staubsaugerbeutel, stieß sich den Kopf an dem Helium-gefüllten Wolf an der Zimmerdecke, roch den gegrillten Wolf im Backofen und hatte so eine Ahnung, was da unter all den Abziehbildern wimmerte. Ohne Zögern rief sie den Förster an, der in Windeseile mit seiner grünen Minna angesaust kam und all die Wölfe zurück ins Wildgehege transportierte.

Ja, und hier sitze ich nun und rätsele immer noch an der Aufgabe des Geißleins herum. Können Sie mir helfen und herausfinden, wie viele vierstellige Zahlen mit zwei verschiedenen Ziffern es gibt? Damit auch dieses Märchen zu seinem versöhnlichen Ende findet nach der Art: Und wenn er nicht gestorben ist, lebt er noch heute als Nachhilfe-Wolf in seinem Gehege und löst mit den kleinen Besuchern ihre Hausaufgaben.
Dass Geißleins es faustdick hinter den Ohren haben, konnten wir bereits lesen. Dass Wölfe offensichtlich nicht die schnellsten Rechner sind ebenfalls. Die Wolfsympathisanten unter Ihnen erhalten hier nun endlich die Auflösung unserer letzten Knobelei.
Da hat das coole Geißlein aber mächtig Glück gehabt. Nicht, weil es die ersten sechs Wölfe so leicht verschaukeln konnte, vielmehr weil der letzte Wolf offenbar nicht der schnellste Rechner war. Denn eigentlich ist die Aufgabe des Geißleins nicht so schwierig.

Gefragt ist nach der Anzahl vierstelliger Zahlen mit genau zwei unterschiedlichen Ziffern a und b. Damit es sich wirklich um eine vierstellige Zahl handelt, darf an erster Stelle - als Tausenderziffer also - keine 0 stehen. Sei a diese Ziffer. Dann gibt es genau 9 Möglichkeiten für a, nämlich die Ziffern zwischen 1 und 9.

Die verbleibenden Ziffern lassen sich nun in drei Gruppen unterteilen: bei der ersten taucht die Ziffer a noch zweimal unter den verbleibenden Ziffern auf, bei der zweiten einmal und bei der letzten Möglichkeit kein mal. Insgesamt gibt es 7 Möglichkeiten, die Ziffern zu kombinieren:
aaab
aaba
abaa
aabb
abba
abab
abbb

Und welche Ziffern kommen für b noch in Frage?

Nun, im Prinzip können wir aus dem Vollen schöpfen, denn die 0 darf hier selbstverständlich stehen. Nur eine Ziffer ist verbraucht: diejenige, die wir für die erste Stelle a vergeben haben. Verbleiben also 10-1 Möglichkeiten für die zweite Ziffer.

Rechnen wir zusammen:

9·7·(10-1) = 567

Es gibt also exakt 567 vierstellige Zahlen, mit genau zwei unterschiedlichen Ziffern.

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