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Zeit und Wissen


Dieses Buch bedürfte eigentlich nicht eines Rezensenten, sondern eher einer ganzen Gruppe; denn wie ein Blick auf das 16 Seiten starke Inhaltsverzeichnis lehrt, handelt es von einer solchen Fülle von Problemen und einer solchen Spannweite von Gegenstandsbereichen, daß jeder Fachmann in seiner Kompetenz überfordert ist. Wer kann heute legitimerweise eine Abhandlung beurteilen, die Wahrscheinlichkeitstheorie, Anthropologie, Kunst, Religion und alle Epochen der Philosophiegeschichte umfaßt? Die Einschätzung kann nur fragmentarisch und perspektivisch sein, ein persönlicher Eindruck, mehr nicht.

Es ist nicht leicht, sich in dem Buch zurechtzufinden, weil es nicht als solches verfaßt ist. Es ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen, deren Erstveröffentlichungen zum Teil viele Jahrzehnte auseinanderliegen, und zerfällt überdies in zwei Hauptteile, in denen fast parallel homologe Themenbereiche abgehandelt werden. Diese Struktur bedingt viele Redundanzen und Wiederholungen. Außerdem stößt man unentwegt auf Querverweise, Metabemerkungen über das Zustandekommen bestimmter Gedanken und auf andere biographische Abhängigkeiten, die viel über den Autor sagen, aber die Lektüre doch erschweren.

Charakteristisch für die Denkweise des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker ist seine Selbständigkeit, aber auch sein Selbstbewußtsein gegenüber den Diskussionen unter den Fachphilosophen. Er fühlt sich nur wenigen klassischen Denkern verpflichtet und gelangt deshalb zu Überlegungen (etwa über Erkenntnis, Zweifel und Glauben), die recht eigenwillig klingen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Mit einer persönlichen Bestimmung von Glauben im Verhältnis zum Erkennen, nämlich als eines Verhaltens zu einem Sachverhalt, gelangt er sehr schnell zu einer unauflöslichen Verbindung von beiden: „Man kann nicht erkennen, ohne zu glauben“ (Seite 50). Das suggeriert einen spontanen Brückenschlag zum religiösen Kontext, nimmt aber der Auseinandersetzung von Wissen und Glauben die Spannung (vergleiche dagegen „What I do not believe“ von Norwood Russell Hanson oder „God: A critical Enquiry“ von Anthony Flew, einschlägigen Autoren, die von Weizsäcker aber nirgends erwähnt).

In den Abschnitten über den Empirismus geht es um die Induktionskritik, die von dem schottischen Universalgelehrten David Hume (1711 bis 1776) aufgeworfene Frage, ob man aus endlich vie-len (empirisch bestätigten) Einzelaussagen auf allgemeingültige Aussagen schließen dürfe. Hier findet sich viel Bekanntes aus der Wissenschaftstheorie, aber durch historische Rückblendungen unterbrochen und zumeist mit wenig Bezug zur aktuellen Fachdiskussion.

Ertragreicher wird die Lektüre, je konkreter sich von Weizsäcker seinen Fachgebieten Mathematik und Physik zuwendet. Im Abschnitt über Geometrie und Physik liest man viel Bemerkenswertes, ist aber manchmal auch wieder enttäuscht: Wenn von Weizsäcker im Abschnitt „Konventionalismus“ die Hohlwelttheorie behandelt (Seite 125), hätte man doch gerne gewußt, welche guten Gründe wir haben anzunehmen, daß wir nicht im Inneren einer Hohlkugel leben. Später zeigt er nur, daß die Abstandsdefinition der Hohlwelttheorie semantisch inkonsistent ist mit unserer normalen Definition. Andererseits ist seine Auseinandersetzung mit dem Operationalismus des Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Hugo Dingler (1881 bis 1954) eine scharfsinnige Widerlegung dieser konventionalistischen Erkenntnistheorie.

Wer nicht schon mehrere Werke von Weizsäckers gelesen hat, wird etwas befremdet sein, zum Beispiel unter dem Abschnitt „Logik“ nicht eine Darstellung der formalen Aussagen- und Prädikatenlogik zu finden, sondern vielmehr methodologische Betrachtungen über Wahrheitstheorien, über das platonische Eidos und über Martin Heideggers „Unverborgenheit“. Sein eigener schöpferischer Beitrag ist wohl in der skizzenhaft angedeuteten Zeitlogik enthalten. Aber auch hier hätte man gerne näher erläutert gesehen, warum er eine Logik „präsentischer“, „perfektischer“ und „futurischer“ Aussagen für notwendig hält. Wie immer fehlen Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Zeitlogikern wie Arthur N. Prior, Nicholas Rescher und Alasdair Urquhart sowie mit der Kritik der Zeitlogik schlechthin durch Mario Bunge. Die Erörterungen laufen relativ abgehoben vom Hauptstrom der wissenschaftstheoretischen Diskussionen.

Im Abschnitt „Physik“ befindet sich von Weizsäcker in seinem ureigensten Arbeitsbereich. Dieses Kapitel wirkt kompetent geschrieben und ist im systematischen Gang weniger durch Rückblendungen und Querverweise unterbrochen. Allerdings wird man auch hier dadurch enttäuscht, daß zwar vielfach weitreichende Fragen aufgeworfen werden, diese jedoch oft in Rätseln enden. So in Sachen Kosmologie (Seite 285): Albert Einsteins Feldgleichungen der Gravitation lassen viele globale Lösungen zu, von denen nur eine das uns bekannte Universum charakterisieren kann. Wie ist der semantische Status der nicht gebrauchten Lösungen zu verstehen? Von Weizsäcker spricht das Problem an, ohne es zu Ende zu bringen.

Im Abschnitt über die Quantenmechanik führt er seine eigene Rekonstruktion derselben als Theorie der Uralternativen vor, von ihm selbst als „Theorie der Information“ gekennzeichnet. Es bleibt aber die Frage, ob man wirklich eine physikalische Theorie auf einer Ontologie der Information aufbauen kann. Wissenschaftstheoretiker wie Bunge haben dies heftig kritisiert, und von Weizsäcker taucht bei der Klärung dieser Frage immer tiefer in die Eidos-Philosophie Platons ein. Sonderlich verständlich wird die Problematik dadurch nicht; der Einsatz einer idealistischen Ontologie an der Basis einer fundamentalen physikalischen Theorie wirkt nicht überzeugend.

In der Folge nimmt sich von Weizsäcker die Frage vor: Was ist Leben? Aber auch hier handelt es sich nicht um eine systematische Auseinandersetzung mit den biologischen Theorien, sondern um eine aphoristische Aneinanderreihung von Ideen. Bemerkungen aus verschiedenen Jahren sind immer wieder durch Rückverweise auf frühere Bücher und durch biographische Reflexionen unterbrochen – beispielsweise durch die Überlegung, warum bestimmte Abschnitte, etwa der über die Anthropologie, nicht beendet wurden.

Je weiter sich von Weizsäcker von der Physik entfernt, desto dunkler, gleichnishafter und pathetischer wird seine Sprache. Ist der Abschnitt über Kunst als eine Art Rhapsodie über Heidegger und Platon zu verstehen, so wandelt sich der Autor beim Kapitel „Religion“ vollends zum sendungsbewußten Verkünder persönlicher Weltweisheit. Er spricht zwar auch hier die neuralgischen Punkte in der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaft an – etwa das Verhältnis von Anfangssingularität („Urknall“) und Schöpfungsidee (Seite 478) –, aber weder diskutiert er die Frage richtig aus, noch nimmt er Bezug auf die scharfsinnigen Untersuchungen der zeitgenössischen analytischen Philosophie (etwa die Arbeiten von Adolf Grünbaum und Roberto Torretti).

Der zweite Hauptteil des Werkes greift die gleichen Themen wie im ersten wieder auf, variiert sie und versieht sie mit weiteren persönlichen biographischen Reflexionen, wobei auch vieles aus der Familiengeschichte integriert ist, so ein längerer Abschnitt über Viktor von Weizsäcker (Seite 922) oder das graphologische Gutachten von Lucy von Weizsäcker über Sigmund Freud.

Wer nicht das ganze Buch lesen möchte, dem sei auf alle Fälle der Abschnitt „Physiker und Physik“ (Seiten 769 bis 921) empfohlen, wo von Weizsäcker lebendig und informativ über bedeutende Wissenschaftler erzählt. Aus seinen Begegnungen mit Niels Bohr, Arnold Sommerfeld, Werner Heisenberg und Paul Dirac erfährt man wichtige Hinweise zum Theorienverständnis der modernen Physik.

Zuletzt sind im vorliegenden Band noch eine Reihe künstlerischer Betrachtungen sowie einige Gedichte abgedruckt, über deren literarische Qualität ich mir kein Urteil erlauben möchte.

Insgesamt bietet „Zeit und Wissen“ einen markanten Überblick über das Schaffen des inzwischen 80jährigen Physiker-Philosophen. Man benötigt aber Ausdauer und Toleranz sowie eine gewisse Bereitschaft, sich auf diese besondere Art des Denkens einzulassen; in diesem Fall wird man doch eine Menge aus dem Buch lernen können.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1993, Seite 111
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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