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Denkt Gott symmetrisch? Das Ebenmaß in Mathematik und Natur


Ian Stewart, Mathematiker im englischen Coventry und Autor von "Mathematischen Unterhaltungen" dieser Zeitschrift, sowie sein Fachkollege Martin Golubitsky aus Houston (Texas) wollen ihr Buch als nachgelieferten Vorspann zu Stewarts Erfolgsbuch "Spielt Gott Roulette?" (Birkhäuser, Basel 1990) aufgefaßt wissen. Trotzdem – man muß es als eigenständiges Werk bewerten, schon um dem Thema gerecht zu werden.

Symmetrie ist dieses Thema. Wie die vielen anderen Bücher dazu auf dem Markt behandelt auch dieses die Symmetrie zusammen mit der Symmetriebrechung. Dabei treten die Autoren auf, als hätten sie beides gerade neu erfunden. Das ist aber nicht so, und sie wissen es. Im Vorwort, und nur dort – nicht durch Quellenangaben – erkennen sie die Schuld, in der sie bei ihren Vorgängern stehen, als "offensichtlich" an: "Sie offenbart sich in vielen Zitaten aus ihren Werken und ist in vielen Ideen enthalten, die wir übernommen haben" (Seite 11).

In der Tat. Ich schreibe dies auch als Betroffener – einer, von dem etwa eine Seite Text zwar mit Namens-, aber ohne Quellenangabe übernommen worden ist. Auch den Titel "Fearful Symmetry" der englischen Originalausgabe ihres Buches haben die Autoren übernommen – zunächst von einem Gedicht des Malers, Kupferstechers und visionär mystischen Lyrikers William Blake (das sie anführen) und dann von dem wunderbaren Symmetrie-Buch des Physikers Anthony Zee (das deutsch "Magische Symmetrie" heißt). Meinen Hinweis auf diese Titelgleichheit hat Stewart damit beantwortet, daß es weitere Symmetrie-Bücher mit ebendiesem Titel gebe, die auch nicht angeführt wurden; und Quellenangaben würden in einem populärwissenschaftlichen Buch nur stören.

Nun ja. In der englischsprachigen populärwissenschaftlichen Literatur ist die Unart verbreitet, ohne Quellenangaben zu zitieren. Das sollte verboten sein. Aber mein Hauptvorwurf gegen das Buch ist ein anderer: Es setzt sich auf das hohe Roß Mathematik und urteilt von dort herab über die Einzelwissenschaften, insbesondere die Physik.

Dabei beruhen diese Urteile auf einem Geflecht von Mißverständnissen. Der für die Anwendungen von Symmetrie und Symmetriebrechung in der Physik grundlegende Unterschied zwischen der Symmetrie von Objekten und der von Naturgesetzen kommt nicht vor. Ein bekanntes Beispiel sind die Newtonschen Gesetze für die Bewegungen eines Planeten um eine kugelförmige Sonne: Sie sind drehsymmetrisch, woraus unter anderem folgt, daß der Planet sich in einer Ebene bewegt. Also kann das System aus Planet und Sonne die Drehsymmetrie des Gesetzes, das für seine Bewegung gilt, nicht haben. Denn die Ebene der Planetenbewegung wird durch Drehungen um Achsen durch den Sonnenmittelpunkt im allgemeinen geändert. Also folgt aus der Symmetrie des Gesetzes die Asymmetrie der Objekte, für die das Gesetz gilt. In dem Buch findet sich kein Wort darüber.

Allgemein wirft das Buch die spontane Symmetriebrechung der Physik mit den normalen und alltäglichen Asymmetrien, die aus Anfangsbedingungen folgen, in einen Topf. Das ist völlig falsch. Von spontaner Symmetriebrechung kann nur bei Systemen gesprochen werden, die Zustände niedrigster Energie – Grundzustände – haben. In klassischen Planetensystemen gibt es keinen derartigen Zustand; die Symmetriebrechung, die bei ihnen auftritt, ist keine spontane. Die abermals andere explizite Symmetriebrechung spielt in dem Buch kaum eine Rolle.

Gemeinsam ist allen Formen der Symmetriebrechung durch die Zustände eines Systems, daß die Gesamtheit der dem System zugänglichen Zustände wieder symmetrisch ist (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1991, Seite 14). Dies ist eine der Ideen, die in das Buch übernommen worden sind. Kurioserweise haben die Autoren – immerhin Mathematiker – auch einen häufig anzutreffenden mathematischen Fehler übernommen: die Unterschlagung der Punktspiegelung in ihren Listen von Bewegungen (Kongruenzabbildungen) des dreidimensionalen Raumes auf den Seiten 49 (dort fehlt auch die Drehspiegelung), 62 und 64.

Als Ausgangspunkt ihrer Diskussion verwenden die Autoren das historisch wichtige Prinzip des französischen Physikers Pierre Curie (1859 bis 1906, Nobelpreis für Physik 1903), das dieser 1894 in einer einflußreichen Arbeit eingeführt hat: "Wenn bestimmte Ursachen bestimmte Wirkungen hervorrufen, so wiederholen sich die Symmetrien der Ursachen in den Wirkungen" (Seite 19). Damit begeben sie sich in Teufels Küche: Was sind bestimmte Ursachen? Gibt es Wirkungen ohne sie? Gerade die Symmetriebrechung durch chaotisches Verhalten, der das Interesse der Autoren vor allem gilt, paßt nicht in dieses Schema. Stewart und Golubitsky benötigen zwei Abschnitte des ersten Kapitels mit den Titeln "Curie hatte unrecht" und "Curie hatte recht", um sich aus der selbstgestellten Falle herauszuwinden.

Hatte Curie nun recht oder nicht? Das bleibt offen, so daß sich sein Prinzip heute nicht mehr als Diskussionsgrundlage eignet.

Außer den grundsätzlichen Diskussionen, die mich nicht überzeugt haben, enthält das Buch zahlreiche interessante Fallstudien. Sie reichen von Kornkreisen über die Vererbung der Händigkeit von Schneckenhäusern und die Gangarten von Tieren bis zur Physik der Elementarteilchen. Besonderen Wert legen die Autoren auf die Symmetriebrechung durch chaotische Strömungen. Von ihnen brechen manche die ursprünglichen Symmetrien, andere erhalten sie. Manche Iterationen entwickeln Struktur im Chaos (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1993, Seite 12).

Ich kann nicht allen Aussagen in den Fallstudien zustimmen. Aber sie sind in jedem Falle anregend zu lesen. Ihretwegen empfehle ich das Buch.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1995, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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