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Ein Vierteljahrhundert Unterhaltungsmathematik

Der Autor der "Mathematical Games" aus dem Scientific American in der Zeit von 1956 bis 1981 läßt 25 Jahre vergnüglicher Rätsel und wichtiger Forschungsergebnisse Revue passieren.


Der erste Artikel meiner Kolumne "Mathematical Games" im Scientific American erschien im Dezember 1956. Er handelte von sogenannten Hexaflexagons; das sind Papierstreifen, die man auf raffinierte Weise zu einem – mehrfach überdeckten – Sechseck faltet und dann die Enden zusammenklebt. Man kann ein Hexaflexagon auf- und in anderer Weise wieder zufalten, wodurch neue, bisher verborgene Seiten zutage treten. Eine Gruppe von Studenten der Universität Princeton (New Jersey) hatte im Jahre 1939 diese Struktur gefunden; einer von ihnen war Richard Feynman (1908 bis 1988), einer der bedeutendsten theoretischen Physiker dieses Jahrhunderts. Und diese Verbindung von Spaß und höchster wissenschaftlicher Leistung ist nach meiner Überzeugung alles andere als zufällig.

Damals – 1956 – war Literatur zur Unterhaltungsmathematik sehr rar. Es gab den Klassiker des Genres, "Mathematical Recreations and Essays" von dem herausragenden englischen Mathematiker W. W. Rouse Ball aus dem Jahr 1892, aktualisiert durch eine ebenfalls legendäre Gestalt der mathematischen Szene, den Kanadier H. S. M. Coxeter, "La Mathématique des Jeux" von dem belgischen Zahlentheoretiker Maurice Kra¨tchik und im übrigen ein paar Rätselsammlungen. Das war im wesent-lichen alles.

Seither ist die Anzahl der Bücher zu diesem Thema explosionsartig angewachsen. Viele ihrer Verfasser sind hervorragende Mathematiker, darunter Ian Stewart von der Universität von Warwick in Coventry (England), der jetzt die Nachfolgerin meiner Kolumne betreut, John H. Conway von der Universität Princeton, Richard K. Guy von der Universität von Calgary (Kanada) und Elwyn R. Berlekamp von der Universität von Kalifornien in Berkeley. Immer häufiger trifft man auch in professionellen mathematischen Zeitschriften auf Aufsätze über Unterhaltungsmathematik, und seit 1968 erscheint vierteljährlich das "Journal of Recreational Mathematics".

Die Grenze zwischen vergnüglicher und ernsthafter Mathematik ist fließend, vielleicht ungefähr so wie zwischen Amateur- und Profifußball. Viele Berufsmathematiker betrachten ihre Arbeit durchaus als eine Art Spiel. Im allgemeinen gehört zur Unterhaltungsmathematik, daß sie einen spielerischen Aspekt enthält und daß sie für Nichtfachleute verständlich und gefällig aufbereitet ist. Häufig geht es um elementare Probleme und deren elegante, manchmal auch überraschendeLösungen, kopfzerbrechende Paradoxien, geistreiche Spiele, verblüffende Zaubertricks und topologische Kuriositäten wie das Möbius-Band und die Kleinsche Flasche. Fast jeder Teilbereich der Mathematik, der einfacher ist als Differential- und Integralrechnung, hat seine unterhaltsamen Ecken (siehe die Beispiele auf der nebenstehenden Seite).

"Mathematics Teacher", die Monatszeitschrift des amerikanischen Mathematiklehrer-Berufsverbands National Council of Teachers of Mathematics, behandelt häufig Themen aus der Unterhaltungsmathematik. Aber das geht offensichtlich an den meisten Adressaten vorbei. Seit vierzig Jahren versuche ich die Lehrerschaft davon zu überzeugen, daß Unterhaltungsmathematik regelmäßiger Bestandteil des Unterrichtes sein sollte, um gerade den jüngeren Schülern die Schönheiten des Fachs nahezubringen. Doch bis jetzt hat sich in dieser Richtung praktisch nichts bewegt.

Ich werde nicht müde, dazu eine Anekdote aus meiner eigenen Schulzeit zu erzählen. Ich hatte während des Mathematikunterrichts alle Pflichtaufgaben erledigt und beschäftigte mich auf einem neuen Blatt Papier mit einem Problem, das mich reizte: Gibt es eine Strategie bei Ticktacktoe, mit der derjenige Spieler, der zuerst zieht, immer gewinnen kann? (Das Spiel heißt auch "Nullen und Kreuze" oder "Drei in einer Reihe". Gewonnen hat, wer in einem 3×3-Quadrat zuerst drei in gerader Linie liegende Kästchen besetzt.) Als die Lehrerin mich beim Zeichnen erwischte, nahm sie mir mein Blatt weg und sagte: "Während meines Unterrichts hast du Mathematik zu treiben und sonst gar nichts!"



Ticktacktoe auf der Schulbank



Aber das war es doch gerade. Das Problem wäre eine köstliche Übungsaufgabe für den Unterricht, eine hervorragende Heranführung an Probleme der Kombinatorik, der Spiel- und der Wahrscheinlichkeitstheorie und an Symmetriebetrachtungen. Außerdem gehört es zur Erfahrungswelt der Schüler: Wer hätte als Kind nicht Ticktacktoe gespielt? Dennoch kenne ich nur wenige Lehrer, die solche Spiele zum Unterrichtsstoff machen.

Gemäß dem 1997er Jahrbuch des Lehrerverbandes ist der letzte Schrei im Mathematikunterricht die "neue neue Mathematik" (new new math) im Unterschied zur "neuen Mathematik" (new math), dem Unterrichtskonzept, das vor ein paar Jahrzehnten so kläglich gescheitert ist. Man teile die Klasse in kleine Gruppen auf und leite diese dazu an, durch gemeinsames, kooperatives Nachdenken gegebene Aufgaben zu lösen: interaktives Lernen anstelle des klassischen Frontalunterrichts. Das Konzept hat zweifellos positive Aspekte; aber ich war doch erstaunt, daß in dem Jahrbuch kein Wort zur Unterhaltungsmathematik steht. Dabei eignet sich gerade diese in besonderer Weise zum Erlernen kooperativen Problemlösens.

Ein konkreter Vorschlag für den Unterricht: Fordern Sie jede Ihrer Kleingruppen auf, sich eine dreistellige Zahl abc auszudenken und die Ziffernfolge zweimal hintereinander in den Taschenrechner einzugeben, also 237237, wenn man sich 237 ausgedacht hat. Behaupten Sie dann, Sie wüßten dank übersinnlicher Kräfte, daß die Zahl im Taschenrechner – die Sie nicht kennen – ohne Rest durch 13 teilbar ist. Das stimmt, stellt sich heraus. Das Ergebnis, behaupten Sie mit einer weiteren Unfug-Begründung, sei ohne Rest durch 11 teilbar, und was dann herauskommt, durch 7. Das stimmt nicht nur, sondern – o Wunder – am Ende steht die ursprünglich gewählte Zahl abc wieder im Taschenrechner. Die Erklärung ist einfach: abcabc = abc×1001 = abc×13×11×7, denn 13× 11×7 ist die eindeutig bestimmte Primfaktorzerlegung von 1001. Lassen Sie Ihre Schülerinnen und Schüler nach dieser Erklärung suchen, und Sie haben eine optimale Einführung in die Zahlentheorie und insbesondere in die Eigenschaften von Primzahlen.



Polyominos und die Penrose-Pflasterung


Eine der größten Freuden meiner 25jährigen Tätigkeit bei Scientific American war die Begegnung mit so vielen echten Mathematikern. Ich selbst bin kaum mehr als ein Journalist mit einem flotten Stil und einem Faible für Mathematik; ich habe das Fach nie studiert. Mit zunehmender Erfahrung wurden meine Artikel zwar anspruchsvoller, aber der große Erfolg der "Mathematical Games" (die seit Oktober 1978 als "Mathematische Spielereien" auch in Spektrum der Wissenschaft erschienen) ist im wesentlichen auf das faszinierende Material zurückzuführen, das ich einigen der besten Fachleute der Welt abzuschwatzen wußte.

Solomon W. Golomb von der Universität von Süd-Kalifornien in Los Angeles war einer der ersten, der mir Stoff lieferte. In der Mai-Ausgabe 1957 habe ich seine Arbeiten über Polyominos vorgestellt. Das sind Gebilde aus gleichen Quadraten, die Kante an Kante aneinandergefügt sind. Das einfachste besteht aus zwei Quadraten und hat unweigerlich die Form des Dominosteins. Das "Do" in "Domino" heißt zwar nicht zwei, aber das macht nichts: Man nennt ein Gebilde aus drei Quadraten einfach ein Tromino, weiter geht es mit Tetrominos, Pentominos und so weiter, allgemein Polyominos. Je größer die Anzahl der Quadrate, desto vielgestaltiger werden die Figuren. Eine der ersten Fragen, die Golomb sich stellte, war: Kann man mit einer bestimmten Menge von Polyominos ein Schachbrett lückenlos und überlappungsfrei bedecken?

Polyominos wurden bald zu einem blühenden Zweig der Unterhaltungsmathematik. Der Science-fiction-Autor Arthur C. Clarke gestand, daß er süchtig nach Pentominos geworden sei, nachdem er einmal angefangen hatte, sich mit den täuschend einfachen Figuren zu beschäftigen.

Golomb machte mich auf die sogenannten Rep-tiles aufmerksam – keine Reptilien, sondern repetitive tiles, "Wiederholungs-Pflastersteine". Damit sind Vielecke gemeint, die in mehreren Exemplaren aneinandergefügt eine vergrößerte Kopie ihrer selbst ergeben (Bild 2). Eines von ihnen, ein unregelmäßiges Fünfeck, trägt den Namen Sphinx, weil es – sehr entfernt – an das gleichnamige ägyptische Bauwerk erinnert. Vier von ihnen, richtig zusammengesetzt, ergeben eine größere Sphinx, vier große Sphingen eine noch größere, und so weiter. Das Konstruktionsprinzip läßt sich beliebig oft wiederholen, und man kann auf diese Weise mit Rep-tiles die Ebene pflastern. Im allgemeinen ist die Pflasterung nicht periodisch, aber selbstähnlich – ein Begriff, der erst viel später in Mode kam.

Piet Hein (1905 bis 1996), herausragender dänischer Dichter und Erfinder, wurde durch seine Beiträge zu den "Mathematical Games" zu einem guten Freund. Im Juli 1957 schrieb ich über ein von ihm entwickeltes topologisches Brettspiel namens Hex. Man spielt es auf einem rautenförmigen Brett mit sechseckigen Feldern. Die beiden Spieler setzen abwechselnd einen Stein auf ein noch freies Sechseck; gewonnen hat, wer als erster eine lückenlose Kette von Steinen von seiner Seite des Brettes zur gegenüberliegenden bildet.

Hein ist auch der Erfinder des Soma-Würfels, den ich in mehreren Heften beschrieben habe (September 1958, Juli 1969 und September 1972). Es handelt sich um einen 3×3×3-Würfel, der aus sieben verschiedenen Polywürfeln zusammengesetzt ist: Gebilden, die ihrerseits – analog den Polyominos – aus drei oder vier Fläche an Fläche aneinandergeklebten Einheitswürfeln bestehen (Bild 3 oben). Aus ihnen läßt sich auf genau 240 Arten ein Soma-Würfel aufbauen. Außerdem gibt es, wie beim Tangram, eine Fülle von Zusammensetz-Aufgaben (Bild 3 rechts).

Im Jahre 1970 besuchte mich der Mathematiker John Horton Conway von der Universität Princeton (New Jersey) – unbestritten einer der genialsten Menschen unserer Zeit und zugleich ein großer Spaßvogel – und fragte, ob ich ein Brett für das japanische Go-Spiel besitze. Dies war der Fall, und so zeigte mir Conway sein heute weithin bekanntes Simulationsspiel "Life" (Spiel des Lebens). Er setzte zunächst nach Belieben ein paar Steine auf irgendwelche Felder des Brettes. Dann fügte er neue Steine hinzu oder nahm welche weg, und zwar nach drei einfachen Regeln: Jeder Stein mit zwei oder drei Nachbarn bleibt liegen; jeder Stein mit einem, keinem oder mehr als vier Nachbarn wird weggenommen; auf jedes leere Feld mit genau drei benachbarten Steinen wird ein neuer Stein gesetzt. (Dabei gelten nicht nur die nächstliegenden, sondern auch die über Eck angrenzenden Felder als benachbart.) Durch wiederholte Anwendung dieser Regeln entsteht eine erstaunliche Vielfalt von Figuren (Bild 4). Manche von ihnen bewegen sich über das Brett wie Insekten.

Im Oktober 1970 von mir vorgestellt, schlug das Spiel unter den Computerfreaks ein wie eine Bombe. Noch viele Wochen später war manches Wirtschaftsunternehmen und Forschungslabor so gut wie lahmgelegt, weil die Life-Begeisterten es nicht lassen konnten, immer neue "Lebewesen" auf ihren Bildschirmen zu erzeugen.

Conway arbeitete später zusammen mit seinen Mathematikerkollegen Richard Guy und Elwyn Berlekamp an dem Werk "Winning Ways" (deutsch: "Gewinnen"), das ich für den wichtigsten Beitrag zur Unterhaltungsmathematik in diesem Jahrhundert halte.

Eines der vielen hundert Spiele, die dort behandelt werden, ist ein Zweipersonenspiel namens Phutball, zu deutsch auch Philosophenfußball, das ebenfalls auf einem Go-Brett gespielt wird. Der Phutball – ein spezieller Spielstein – wird in die Mitte des Brettes gesetzt. Wenn ein Spieler an der Reihe ist, kann er entweder einen Stein auf einen Gitterpunkt des Spielfeldes setzen oder aber den Phutball bewegen, indem er ihn einen benachbarten Stein (so es diesen gibt) überspringen läßt, den übersprungenen Stein wie beim Damespiel vom Brett entfernt und möglicherweise den Phutball weitere Sprünge machen läßt. Ziel jedes Spielers ist es, den Phutball auf der jeweils gegenüberliegenden Seite des Spielfeldes ins Aus zu befördern. Dazu muß man ihm eine Reihe von Steinen geschickt in den Weg legen. Das Spiel ist insofern ungewöhnlich, als es anders als etwa beim Damespiel nur eine Sorte Steine gibt. Somit haben beide Spieler stets die gleichen Zugmöglichkeiten.

Frank Harary, der heute an der Staatsuniversität von New Mexico arbeitet, erfand eine Verallgemeinerung von Ticktacktoe, die ich im April 1979 vorgestellt habe. Das Ziel ist nicht mehr, aus den Nullen beziehungsweise Kreuzen eine gerade Linie zu bilden, sondern ein vorgegebenes Polyomino, etwa ein L oder ein Quadrat.

Ronald R. Rivest vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge gewährte mir das Privileg, als erster (im August 1977) das Geheimnis der Kryptographie mit veröffentlichtem Schlüssel (public-key cryptography) zu lüften, bei deren Entwicklung er mitgearbeitet hatte. Diese Idee hat zusammen mit ihren Nachfolgern die Kryptologie revolutioniert (vergleiche "Die Mathematik neuer Verschlüsselungssysteme" von Martin E. Hellman, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1979, Seite 82).

Ich hatte auch das Vergnügen, die mathematischen Kunstwerke von Maurits C. Escher (1898 bis 1972) zu präsentieren, deren eines den Titel der April-Ausgabe 1961 schmückte, sowie die nichtperiodische Pflasterung der Ebene von Roger Penrose, dem britischen Mathematiker und Physiker, der durch seine Arbeiten zur Relativitätstheorie und über Schwarze Löcher bekannt wurde (Spektrum der Wissenschaft, September 1996, Seite 46).

Die Penrose-Pflasterung ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie eine mathematische Idee, die durch nichts als den Spieltrieb motiviert ist, völlig unerwartet eine praktische Anwendung finden kann. Penrose hatte zwei verschiedene Arten von Pflastersteinen eingeführt, "Drachen" und "Pfeile", die eine nichtperiodische Pflasterung der Ebene erzwingen: Das Muster kann nicht aus der Aneinanderreihung von unendlich vielen Exemplaren eines Teilmusters bestehen – und sei dieses noch so groß (Bild 5).

Der Artikel ist in Spektrum der Wissenschaft im November 1979 erschienen; einige Jahre später stellte sich heraus, daß eine dreidimensionale Verallgemeinerung der Penrose-Pflasterung das Bauprinzip einer bis dahin unbekannten molekularen Struktur ist: der Quasikristalle. Seither sind Hunderte von Forschungsarbeiten über Quasikristalle, ihre spezielle Thermodynamik und ihre Schwingungseigenschaften entstanden (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1986, Seite 74, und Juni 1991, Seite 48). So wurde ein Zeitvertreib zum Grundstein für ein völlig neues Teilgebiet der Festkörperphysik.



Leonardos Wasserspülung


Es gab zwei Artikel, die mit Abstand die meisten Leserbriefe ernteten: ein Aprilscherz und der Artikel über Newcombs Paradox. Im April 1975 berichtete ich von bahnbrechenden Entdeckungen in den Naturwissenschaften und der Mathematik: Die Relativitätstheorie sei widerlegt, Leonardo da Vinci habe die Wasserspülung erfunden, der Eröffnungszug "Bauer auf h4" beim Schachspiel führe mit Sicherheit zum Sieg, und e hoch PI SQRT163 sei genau die ganze Zahl 262537412640768744. Zu meinem Erstaunen haben Tausende von Lesern diesen Unfug für bare Münze genommen. Ich hatte auch eine komplizierte Landkarte beigefügt und behauptet, man brauche mindestens fünf verschiedene Farben, um sie so zu färben, daß keine zwei benachbarten Regionen gleichfarbig werden. Das wäre eine Widerlegung des – damals noch nicht bewiesenen – Vierfarbensatzes gewesen. Hunderte von Lesern schickten mir Vier-Färbungen der Karte zur Widerlegung der Widerlegung. Viele schrieben, daß die Arbeit sie Tage gekostet hätte.

Newcombs Paradox stammt von dem Physiker William A. Newcomb, wurde allerdings zuerst beschrieben in einer wissenschaftlichen Arbeit des Philosophen Robert Nozick von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts). Es geht um folgendes: Vor Ihnen stehen zwei geschlossene Kästen A und B. Kasten A enthält 1000 Dollar, in B ist entweder gar nichts oder eine Million Dollar. Sie dürfen nun wählen, ob Sie Kasten B oder beide zusammen haben wollen. Die zweite Möglichkeit scheint offensichtlich die günstigere zu sein; doch die Sache hat einen Haken. Ein Wesen mit übersinnlichen Kräften – sagen wir Gott – vermag vorauszusagen, wie Sie sich entscheiden werden. Wenn es prognostiziert, daß Sie aus Habgier beide Kästen nehmen, sorgt es dafür, daß B leer bleibt; Sie bekommen also nur die 1000 Dollar. Wenn es aber weiß, daß Sie ein bescheidener Mensch sind und sich mit Kasten B begnügen werden, legt es die Million hinein. Sie haben bei dem Spiel eine ganze Weile zugeschaut und dabei beobachtet, daß Kasten B jedesmal leer war, wenn der jeweilige Spieler beide Kästen wählte. Aber immer, wenn er nur Kasten B nahm, gab es alsbald einen frischgebackenen Millionär zu beglückwünschen.

Was ist unter diesen Voraussetzungen für Sie die optimale Spielstrategie? Die pragmatische Überlegung ergibt: Nach dem bisherigen Spielverlauf zu urteilen, ist das übersinnliche Wesen tatsächlich in der Lage, exakte Prognosen zu stellen. Also wählen Sie Kasten B und verzichten großzügig auf die 1000 Dollar, denn die Million ist Ihnen sicher. Aber Vorsicht! Das übersinnliche Wesen trifft seine Entscheidung, bevor das Spiel beginnt, und zwar unwiderruflich. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Sie Ihre Wahl treffen, enthält Kasten B entweder eine Million oder gar nichts. In letzterem Fall gehen Sie leer aus, auch wenn Sie sich dazu durchgerungen haben, sich mit Kasten B zufrieden zu geben. Wenn Sie beide Kästen nehmen, gehören Ihnen zumindest die 1000 Dollar aus Kasten A. Die Million aus Kasten B – wenn sie drin ist – nehmen Sie als willkommene Zugabe mit. Also kann man doch nur gewinnen, wenn man sich für beide Kästen entscheidet. Oder?

Jedes der Argumente scheint unangreifbar; aber sie widersprechen sich. Was ist nun die beste Spielstrategie? Nozick kam zu dem Schluß, daß das Paradox, welches zur Entscheidungstheorie, einem Teilgebiet der Mathematik, gehört, nicht auflösbar sei. Nach meiner persönlichen Meinung widerlegt dieser logische Widerspruch die Behauptung, ein übersinnliches Wesen könne Entscheidungen voraussagen. Ich schrieb darüber im Juli 1973 und erhielt so viele Zuschriften, daß ich sie allesamt in einen Karton packte und eigenhändig an Nozick weitergab. Er kommentierte die Briefe im März 1974.

Ein beliebter Gegenstand der Unterhaltungsmathematik sind seit jeher magische Quadrate. In ihnen stehen positive ganze Zahlen mit der Eigenschaft, daß die Summe jeder Zeile, jeder Spalte und der Diagonalen den gleichen Wert ergibt. Üblicherweise verlangt man, daß die Zahlen alle verschieden sein oder sogar, daß es genau die Zahlen von 1 bis n2 sein sollen, wobei n die Ordnung (Seitenlänge) des Quadrats ist. Unter dieser Bedingung existiert genau ein magisches Quadrat der Ordnung 3, abgesehen von unwesentlichen Modifikationen wie Drehungen und Spiegelungen. Zur Ordnung 4 gibt es bereits 880 wesentlich verschiedene magische Quadrate, und die Anzahl nimmt mit steigender Ordnungszahl sehr schnell zu (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Januar 1996, Seite 14).

Erstaunlicherweise ist es bei magischen Sechsecken ganz anders. Clifford W. Adams, ein ehemaliger Angestell-ter der Reading-Eisenbahngesellschaft, sandte mir 1963 ein magisches Sechseck der Ordnung 3 (Bild 6). Ich gab es an Charles W. Trigg weiter, einen Mathematiker vom Los Angeles City College. Trigg wies nach, daß diese schöne Struktur das einzige magische Sechseck der Ordnung 3 ist und daß es keine weiteren magischen Sechsecke irgendeiner Ordnung gibt.

Wenn man nicht mehr verlangt, daß die in einem magischen Quadrat vorkommenden Zahlen eine lückenlose Folge bilden, sondern nur noch, daß sie verschieden sein sollen, gibt es eine größere Reichhaltigkeit. Zum Beispiel existieren unendlich viele magische Quadrate der Ordnung 3 aus lauter Primzahlen. Was ist, wenn man Quadratzahlen statt Primzahlen verlangt? Vor zwei Jahren bot ich in einem Aufsatz in der Zeitschrift "Quantum" 100 Dollar für eine solche Anordnung der Ordnung 3. Bis jetzt hat noch niemand ein derartiges "Quadrat aus Quadraten" vorgelegt – aber es ist auch noch nicht bewiesen, daß es so etwas nicht geben kann. Es versteht sich, daß alle nicht zu großen Möglichkeiten mit dem Computer durchprobiert worden sind. Wenn also so ein Quadrat existieren sollte, wären die auftretenden Zahlen sicherlich riesig, vielleicht sogar außerhalb der Reichweite eines Supercomputers. Was hätte man davon, wenn man es hätte? Höchstwahrscheinlich nichts. Warum suchen die Mathematiker es dann? Weil es existieren könnte!



Wunderwelt der Zahlen


Ungefähr einmal im Jahr pflegte ich in meiner Kolumne ein imaginäres Interview mit dem Numerologen Dr. Irving Joshua Matrix zu bringen (man beachte, daß sich die Teufelszahl 666 ergibt, wenn man die Buchstaben in Vor- und Zunamen zählt). Der gute Dr. Matrix ließ sich dann meistens über ungewöhnliche Eigenschaften von Zahlen und seltsame Wortspiele aus. Viele Leser hielten ihn und seine wunderschöne Tochter Iva Toshigori, eine Halbjapanerin, für real existierende Personen. Ein etwas irritierter Japaner schrieb mir, Toshigori sei doch ein ziemlich ungewöhnlicher japanischer Nachname. Ich hatte ihn aus dem Stadtplan von Tokio, und mein Informant berichtete mir, das Wort bedeute "die Straße der alten Männer".

Leider konnte ich Dr. Matrix nie nach seiner Meinung zu dem absurden Bestseller "Der Bibel Code" von Michael Drosnin fragen. Der Autor behauptet, daß sich aus der Folge der hebräischen Buchstaben im Alten Testament die Zukunft voraussagen lasse. Das Dechiffriersystem, mit dem das alles möglich sein soll, hätte Dr. Matrix alle Ehre gemacht. Durch selektive Anwendung dieses Systems auf bestimmte Textblöcke kann der neugierige Leser nicht nur im Alten Testament versteckte Voraussagen aufspüren, sondern ebenso im Neuen Testament, dem Koran, dem Wall Street Journal und sogar in den Seiten des "Bibel Code" selbst.

Als ich das letzte Mal von Dr. Matrix hörte, war er gerade in Hongkong und untersuchte das Auftreten von PI in wichtigen Werken der Weltliteratur. Er zitierte etwa aus dem 9. Kapitel des zweiten Buchs von "The War of the Worlds" von H. G. Wells: "For a time I stood regarding..." Die Anzahl der Buchstaben in diesen Worten ergibt genau PI auf sechs Stellen!

Literaturhinweise

Mathematical Recreations and Essays. 13. Auflage. Von W. W. Rouse Ball und H. S. M. Coxeter. Dover, 1987.

Gewinnen. Strategien für mathematische Spiele. Von John Conway, Richard Guy und Elwyn Berlekamp. 4 Bände, Vieweg, Wiesbaden 1985/1986.

Zahlenzauber. Von natürlichen, imaginären und anderen Zahlen. Von John H. Conway. Birkhäuser, Basel 1997.

Journal of Recreational Mathematics. Erscheint viermal jährlich bei Baywood Publishing Company, 26 Austin Avenue, P.O. Box 337, Amityville, NY 11701, USA.

Mathematische Rätsel und Probleme. Von Martin Gardner. 5. Auflage, Vieweg, Wiesbaden 1980.

Das gespiegelte Universum. Von Martin Gardner. Vieweg, Wiesbaden 1967.

Logik unterm Galgen. Von Martin Gardner. 2. Auflage, Vieweg, Wiesbaden 1980.

Mathematische Knobeleien. Von Martin Gardner. 3. Auflage, Vieweg, Wiesbaden 1984.

Mathematisches Labyrinth. Von Martin Gardner. Vieweg, Wiesbaden 1979.

Mathemagische Tricks. Von Martin Gardner. Vieweg, Wiesbaden 1981.

Die magischen Zahlen des Dr. Matrix. Von Martin Gardner. S. Fischer, Frankfurt am Main 1987.

Bacons Geheimnis. Von Martin Gardner. S. Fischer, Frankfurt am Main 1986.

Mathematischer Karneval. Von Martin Gardner. Ullstein, 1993.

Geometrie mit Taxis, die Köpfe der Hydra und andere mathematische Spielereien. Von Martin Gardner. Birkhäuser, Basel 1997.

Lucky numbers and 2187. Von Martin Gardner in: The Mathematical Intelligencer, Band 19, Heft 2, Seiten 26 bis 29, Frühjahr 1997.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1998, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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