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Physik: Facing up

Science and its Cultural Adversaries
Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts) 2001. 296 Seiten, € 26,–


Die hier versammelten 23 Essays und Vorträge sind zwischen 1985 und 2000 anlässlich sehr verschiedener Gelegenheiten und zu sehr verschiedenen Zwecken entstanden. Das reicht von drei Seiten, die ursprünglich in einer Hochglanz-Modezeitschrift namens "George" erschienen, bis zu zwanzig Seiten über die Physik des 20. Jahrhunderts allgemein für das renommierte Sammelwerk "The Oxford History of the Twentieth Century". Stephen Weinberg äußert sich stets erhellend und auf hohem Niveau, auch für "George". Immerhin erklärt er dort, wie ihm der Geistesblitz zur Vereinigung der elektromagnetischen und der schwachen Wechselwirkung kam, während er seiner Tochter beim Spielen im Sandkasten zusah – ein Geistesblitz, für dessen Folgen er mit dem Nobelpreis für Physik des Jahres 1979 geehrt wurde.

Von den zahlreichen Themen seien drei herausgegriffen. Neben den Forschungsuniversitäten, die zur Promotion führen und unseren Universitäten vergleichbar sind, gibt es in den USA Bildungsanstalten wie das kleine, traditionsreiche Washington College in Chestertown (Maryland), deren Qualitäten Weinberg in dem Vortrag "Science as a Liberal Art" preist: "In den mehr als zwanzig Jahren, die ich an Fakultätssitzungen teilgenommen habe, ist es niemals vorgekommen, dass ein Physiker oder eine Physikerin wegen guter Lehre statt guter Forschung angestellt worden wäre. Aber Gott sei gedankt für die Vielfalt in Amerika! An kleinen Bildungsanstalten wie Washington College steht die Lehre so im Mittelpunkt, wie es an den Forschungsuniversitäten nur selten der Fall ist." Gute Gründe mögen dafür sprechen, an den deutschen Universitäten der Lehre ein größeres Gewicht zu verleihen als bisher. Das Weinberg-Zitat zeigt aber, dass die Bildungsanstalten der Vereinigten Staaten als Vorbild hierfür nicht dienen können.

Zweitens der Realitätsbegriff. Weinberg bekennt, dass er nicht weiß, worin die Realität aufdringlich realer Objekte wie Steine und Stühle besteht, ja, was das überhaupt ist – Realität. Indem er das Nachdenken darüber den Philosophen überlässt, fügt er hinzu, dass ihn die Naturgesetze als genauso real beeindrucken wie die Objekte der unmittelbaren Anschauung. Natürlich geht es ihm nicht um Formulierungen der Naturgesetze, die je nach Kulturkreis oder Zufallseinflüssen verschieden ausfallen mögen, sondern um die Zusammenhänge zwischen direkt beobachtbaren Phänomenen, die sie erfolgreich behaupten: Welche Anordnung jetzt impliziert welche Zeigerstellungen später? Anders als für den Philosophen kann für den Physiker nicht nur ein Ding, sondern auch ein Naturgesetz die Erfahrung von Realität auslösen. Mir scheint, dass dies für Physiker so selbstverständlich wahr ist, dass es niemand ausgesprochen hat, bevor Weinberg es 1993 in seinem Buch "Der Traum von der Einheit des Universums" explizit machte. Im vorliegenden Buch sagt er es – in "Sokal’s Hoax" – so: "Wenn ich sage, dass die Gesetze der Physik real sind, dann meine ich in ziemlich demselben Sinne real wie die Steine im Feld (was immer das bedeuten mag) und nicht in demselben Sinn wie die Regeln des Baseball", was Konstruktivis-ten wie Stanley Fish behaupten.

Nicht dass die Regeln des Baseball von den Naturgesetzen unabhängig wären: "Wenn die Bälle unter dem Einfluss der Erdanziehung anders flögen, würden die Regeln eine größere oder eine geringere Entfernung für die Abschlagspunkte (bases) bestimmen." Aber sie "geben auch die historische Entwicklung des Spiels und die Vorlieben der Spieler und Fans wieder" – im Unterschied, selbstverständlich, zu den Naturgesetzen.

Drittens der Reduktionismus. Weinberg bekennt sich zu einer Ausprägung, für die er seinen Kollegen Freeman J. Dyson zitiert: Es geht darum, "die Welt der physikalischen Phänomene auf eine endliche Menge fundamentaler Gleichungen zu reduzieren". Wer wie ein wisssüchtiges Kind immer wieder "Warum?" fragt, wird, den "Pfeilen der Erkenntnis" folgend, bei dem Standardmodell der Elementarteilchentheorie ankommen. Alle Pfeile weisen nämlich auf dieses hin. Nicht schließlich, sondern vorläufig. Von ihnen aus auf die Stringtheorie.

Dass es emergente Phänomene und Gesetze gibt, bestreitet Weinberg nicht. Sie mögen durch die fundamentalen Naturgesetze zwar nicht festgelegt werden, aber ihr Auftreten zeigt, dass sie mit ihnen im Einklang sind. Wären die fundamentalen Naturgesetze ganz andere, würden sie die Ausbildung des beobachteten emergenten Verhaltens wohl nicht zulassen.

Jedem Essay des Bandes hat Weinberg eine Vorbemerkung vorangestellt, aus der dessen Entstehung und Wirkung hervorgehen und die ihn mit anderen Essays des Bandes verbindet. Zu den größeren Themen gehören auch das anthropische Prinzip (elf Verweise im Register) sowie die Religion (28). Gegen religiöse Auffassungen hat sich Weinberg stets entschieden gewendet. Dies hat ihm viel Kritik eingebracht, auf die er brillant reagiert.

Mit seinen Essays will Weinberg Politiker und das allgemeine Publikum ansprechen. Deshalb muss er mehr erklären – genauer: mehr vorgefasste Meinungen ausräumen – als gegenüber seinesgleichen. Dies gelingt ihm in hervorragender Weise. Jedem, der sich aus erster Hand mit seiner, aber nicht nur seiner, rationalen Auffassung der Physik vertraut machen will, sei "Facing Up" nachdrücklich empfohlen.

Unverhohlen ist das Buch eine Sammlung unabhängiger Essays – was, wenn auch verhohlen, bereits sein Vorgänger "Der Traum von der Einheit des Universums" war. Trotz zahlreicher Überschneidungen lohnt es, beide Bücher zu lesen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2002, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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