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Mathematische Knobelei: An der nächsten Kreuzung bitte ...

Auch ein Weg von tausend Meilen fängt mit einem Schritt an, sagt ein chinesisches Sprichwort. Wohl wahr. Leider stammt nicht nur diese Weisheit aus dem Land der Drachen und Pandas – auch das Navigationsgerät in meinem Auto wurde dort produziert. Und allem Anschein nach fährt es im wörtlichen Sinne ab auf weite Wege.
Man fährt nicht mehr ohne. Und wenn Sie mich fragen, ist das auch gut so. Vorbei die Zeiten, in denen der Beifahrer die Straßenkarte verkehrt herum hält und sich beschwert, dass nur die hebräische Ausgabe an Bord sei. Kein frustrierendes Herumgefrage nach dem Weg in Orten, in denen sich offenbar nur Zugereiste auf die Straßen trauen. Nie wieder Schleichwege, die unverhofft von Autobahnen zu waldischen Sackgassen werden. Ich habe offiziell und von ganzem Herzen die Wegfindung auf Basis biologischer Intelligenz aufgegeben und verlasse mich fortan frohgemut auf die Überlegenheit mikrochipischer Technik.

Kompass Giga heißt meine neue Allwissenheit auf Deutschlands Straßen, und es ist eine SIE. Stets freundlich, mit wohl akzentuierter Aussprache weist sie mich in leicht kokettem Ton durch die verwirrenden Gassen Kölns. Giga kennt sich aus, und nun ja, ich glaube, sie hat eine kleine Schwäche für mich – trägt sie ihre Anweisungen doch für reine Richtungsangaben einen verräterischen Hauch zu gehaucht vor. Und meine Adresse kennt sie auch schon.

Ebenso die meiner Tochter in Berlin, der meine Frau und ich im Schwunge der Begeisterung ebenfalls eine Giga gekauft haben. Einen ER. Denn dank eifrigen Knöpfchen-Tippens hat Töchterlein im Apparat auch eine männliche Stimme gefunden und sich spontan in "Horst" verliebt. Typisch weiblicher Mangel an Distanz zu technischen Spielereien eben.

Die Freude an der neuen Orientierung hat alsbald Eltern wie Tochter dazu verleitet, zwecks gegenseitigem Besuchs den schwierigen Weg von Köln nach Berlin beziehungsweise Berlin nach Köln zu wagen. Ohne Karte, nur mit Giga und Horst. Und ohne Absprache, worin wohl der Grund zu sehen ist, dass meine Frau und ich exakt zum gleichen Zeitpunkt Köln verließen, wie unser Tochterherz Berlin. Wir mit senioröser Durchschnittsgeschwindigkeit von 100 km/h, Töchterchen mit entengetriebenen 90 km/h im Mittel.

Der Start gelang mit schlafwandlerischer Traumhaftigkeit. Giga hauchte mir ihre Befehle zu, und ich gehorchte sklavisch ihrem vollkommenen Wissen. Ich folgte den rechten Spuren, ordnete mich links ein, bog schräg ab und wendete, wenn möglich. Von Köln ging es im Nu über Frankfurt, durch Saarbrücken, um Nürnberg, die Ausläufer von Stuttgart und entlang am Ufer des Bodensees. Keine Sekunde trauerte ich den einstmals so verbissenen Fahrten nach, in denen pausenloses Schielen nach Hinweisschildern mich daran gehindert hatte, der vollen Schönheit und erstaunlichen Größe Deutschlands gewahr zu werden.

Weiter führte uns der Weg Gigas über Augsburg, Kassel und Salzgitter, wo meine Frau einen flüchtigen Blick auf unsere Tochter in ihrer Ente auf der Gegenfahrbahn erhaschte. Wenig später sahen wir mit eigenen Augen, wo entlang ihr Horst sie auf der gleichen Route in anderer Richtung geführt hatte. Das Meer zur Linken folgte ich dem Straßenverlauf 54 Kilometer, beachtete bei Bielefeld den Hinweis auf dem Display und nahm bei Rostock die dritte Ausfahrt aus dem Kreisverkehr. Ein völlig neues Reisegefühl hatte sich eingestellt.

In Berlin drehten wir sogleich wieder um, da unsere Tochter nicht zu Hause war, die ihrerseits in Köln augenblicklich wendete. Nach kurzem Augenkontakt auf der Autobahn setzten wir unbedeutend später in Köln unverzüglich zur zweiten Runde an und Töchterlein tat gleiches in Berlin. Insgesamt zehnmal vollzogen meine Frau und ich die Gigasche Deutschlandtour, unsere Tochter und ihr Horst immerhin neunmal. Dann saß jeder wieder daheim in seiner eigenen Stadt. Immerhin hatten wir uns während der Fahrt öfter gesehen und einander zugelächelt. Wie oft? Das hat Giga uns leider nicht verraten. Aber vielleicht können Sie das ja ausrechnen?
Zum Glück hat niemand die Spritmenge berechnet, die diese Fahrten gekostet haben. Die Anzahl der Begegnungen mit dem Fräulein Tochter kann auf mehrere Weisen berechnet werden. Am anschaulichsten wird es mit ein wenig Trigonometrie.
Nehmen wir für Giga eine Cosinusschwingung und für Horst den Sinus. Unterschiedliche Startpunkte und zwei Schnittpunkte pro Schwingung. Da Fräulein Tochter in der gleichen Zeit wie ihre Eltern nur das 0,9-fache an Strecke schafft, muss in ihren Sinus der Faktor 0,9 gepackt werden. Das gibt also für Giga die Kurve cos(x) und für Horst sin(0,9x). In der Zeichnung lassen sich nun die 19 Schnittpunkte abzählen, die während der neun Schwingungen des Sinus und der zehn Schwingungen des Cosinus erfolgen. Außerdem sieht man, wie knapp sich Tochter und Eltern zweimal in Köln (oben) und einmal in Berlin (unten) verpasst haben. Vielleicht sollten sie sich das nächste Mal nicht ausschließlich den elektronischen Lieblingen anvertrauen.

Der Sinus ist grün, der Cosinus rot eingefärbt.

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