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Mathematische Knobelei: Das Fahrrad des Herrn Cheng

"Es gibt neun Millionen Fahrräder in Beijing", weiß der Liedertext. Eines davon wartet auf den Herrn Cheng, um ihn in den Garten der tausend Drachen zu tragen. Wie gestern, vor einem Monat, einem Jahr … wie immer. Doch "immer" unterliegt im Reich der Mitte einem mahlenden Strudel der Moderne.
Der Hof eines niedrigen Häuserblocks. Ringsum zwei Stockwerke. Fenster, die hinab blicken. Gelb getünchte Wände. Risse im Putz. Dahinter grobe Ziegel. Ein Boden aus gestampfter Erde. Eine kleine Welt in der Welt in der Welt. Geschützt vor dem Draußen durch die Mauern. Verbunden mit dem Unendlichen über den Himmel.

An der Seitenwand lehnen Fahrräder. Drei rostige Räder. Ineinander verkeilt und verklemmt. Ohne Reifen, die Sättel verschlissen. Keine Fahrräder zum Fahren. Räder zum Vergessen. Bereits vergessene Räder. Daneben das Fahrrad des Herrn Cheng. Mit geölter Kette und hell tönender Glocke. Ein Fahrrad, das in seinem Rahmen die Rauheit der Straße kennt. Ein Fahrrad des Seins.

Sein Weg ist der Weg des Herrn Cheng. Hinaus aus dem Hof. Durch das hölzerne Tor in die Welt. Die schmale Gasse entlang. Auf die lebhafte Straße. Über den breiten Boulevard mit seinen mehr und mehr werdenden Autos. Mitten durch die Welt der Autos, die einst die Welt der Fahrräder war. Zum tausendjährigen Garten der tausend Drachen. Den großen Garten, in dem Herr Cheng arbeitet. In dem das Fahrrad steht und auf ihn wartet. Auf den Weg zurück durch die Welt zum Hof.

Ein Garten, der die Formenordnung der Welt atmet. Ein gleichseitiges Dreieck, umgeben von seinem Umkreis. Der Umkreis ist Innenkreis eines Quadrats. Das Quadrat umgibt ein Umkreis, der Innenkreis ist eines Fünfecks. Das Fünfeck umgibt ein Umkreis, der Innenkreis ist eines Sechsecks. Ein Umkreis, Innenkreis, Siebeneck. Um, Innen, Achteck. Neuneck. Zehn. Elf. Zwölf. Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn. Sechzehn. Alle mit Umkreis und Innenkreis. Kreise, die sich mit Ecken stoßen.
Die Wege auf den Bahnen der Vielecke und Kreise schaffen Flächen. Kleine Flächen als Heimat für kleine Drachen. Große Flächen als Wohnort großer Drachen. Eine Fläche für jeden Drachen, ein Drache für jede Fläche. Das Fahrrad des Herrn Cheng hat sie alle gesehen. Alle gezählt, auf seinem Weg durch den Garten. Auf Herrn Chengs Weg durch den Garten der Drachen.

Der Garten der tausend Drachen. Doch die tausend Drachen sind keine tausend. Es sind viele, keine tausend. Das Fahrrad des Herrn Cheng sieht sie alle vor sich. Während es im Hof auf den Herrn Cheng wartet. Darauf, ihn zu dem Garten zu tragen. Zu den tausend Drachen, die keine tausend sind. Die das Fahrrad mit seiner hellen Glocke grüßen wird. Wenn Herr Cheng kommt. Aber Herr Cheng kommt nicht mehr.

Wie viele Drachen leben wirklich im Garten der tausend Drachen?
Da stellt sich doch eine gewisse Melancholie ein. Aber es hilft nichts, gezählt werden muss ja doch, und bei aller Trauer wird sich doch der ein oder andere still und heimlich über eine machbare Knobelei gefreut haben.
Fangen wir also an, den Garten der tausend Drachen aufzubauen. Die erste Fläche bildet das Dreieck in der Mitte des Gartens. Der Umkreis erweitert das Gebilde um drei Flächen, eine an jeder Seite des Dreiecks. Das Viereck fügt vier neue Flächen hinzu, sein Umkreis ebenfalls. Über jeder Seite entsteht eine neue Fläche und an jedem Eck entsteht eine neue Fläche. Bis zum Umkreis des 16-Ecks. Die gesuchte Anzahl ist damit:

1 + 3 + 2⋅4 + 2⋅5 + 2⋅6 + ... + 2⋅15 + 2⋅16 
= 4 + 2⋅(4 + 5 + 6 + ... + 15 + 16) 
= 4 + 260 
= 264

Der Garten der tausend Drachen wird also von 264 Drachen bewohnt.

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