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Mathematische Knobelei: Folgen Sie dem Meister!

Handys, portable Spielkonsolen, Computernetze, Funkuhren … elektromagnetische Wechselfelder sind überall. Und eifrig forschen besorgte Wissenschaftler an eventuellen Störungen der Physis, die sie verursachen könnten. Doch niemandem ist bewusst, welche Macht über die Psyche der Elektrosmog hat. Niemandem - außer mir.
Entdeckt habe ich die psychomanipulative Kraft der Strahlung nach guter alter Pioniertradition rein zufällig. Ich hatte Feierabend und hing wie üblich mit einer Flasche Bier auf dem Sofa ab, während meine Frau das Abendessen kochte. Unsere dreijährige Tochter krabbelte spielend vor dem Fernseher herum, als mein Verein, der 1. FC Hexagon, sein viertes Tor in einer Halbzeit kassierte.

Den zweiten Teil des Dramas wollte ich mir lieber nicht zumuten, und so griff ich mir die Fernbedienung, um durch die Kanäle zu zappen. Da geschah es: Ich drückte auf die Taste für "Programm vor", und unsere Lütte zuckte kurz zusammen.

Wahrscheinlich Schluckauf, dachte ich noch und sprang von der Herzschmerzserie einen Kanal weiter. Wieder das Zucken. Welch seltsame Synchronität, kam mir in den Sinn. Ich beschloss, den Rhythmus zu brechen, und klickte in verschiedenen Abständen. Zucken, Pause, Zucken, Zucken, Pause, Pause, Pause, Zucken … Kein Zweifel: Die Ereignisse waren gekoppelt. Jeder Tastendruck ein kurzes Zusammenfahren.

Oder etwa nicht? Ich wollte meine Beobachtung noch einmal bestätigen und nahm mir drei schnelle Wechsel zu niedrigeren Programmen vor. Mein Daumen schwebte bereits über der Fernbedienung, der Gedanke zu drücken nahm Gestalt an, als meine Frau aus der Küche laut fragte, wie viel Senf ich auf meine Buletten wollte. Ich verzögerte die Schaltbewegung für eine Antwort. Dennoch zuckte unsere Tochter dreimal. Ich stutzte. War meine Theorie von der Humanfernbedienung damit widerlegt? Oder lag das Kommando etwa gar nicht in dem Schaltvorgang an sich, sondern war diesem vorgelagert?

Eine zweite Testreihe folgte, in welcher ich herausfand, dass in dem elektromagnetischen Feld unseres voll ausgestatteten Haushalts allein mein gedachter Befehl ausreichte, um das Kind zucken zu lassen. Mehr noch: Ich konnte sie wortlos in die Küche schicken, eine neue Flasche Bier holen. Sie Handstand machen lassen und Salto rückwärts. Und nicht nur unsere Tochter, sondern auch meine Frau, die vor der Mikrowelle von mir gedanklich vorgegebene bulgarische Volkslieder trällerte, aramäische Verben konjugierte und sich ein halbes Dutzend roher Eier auf dem Kopf zerschlug. Ich war ein Superheld!

In den folgenden Tagen erprobte ich meine Kräfte auf verschiedenen mehr oder minder öffentlichen Territorien. Beim Frühstück ließ ich mit einem gedankenstarken Blick aus dem Fenster den Postboten von allen Briefen die Marken mit den Zähnen abreißen. Ich veranlasste auf dem Weg zur Arbeit, dass die Straßenbahnen rückwärts fuhren, bis sie kolossal ineinander verkeilt waren. Und im Büro schredderte mein Chef durch meine subtile Beeinflussung alle Krawatten, derer er habhaft werden konnte. Ich hatte einen wundervollen Tag.

Bis zu dem Stromausfall, der die Stadt für eine halbe Stunde lahm legte. Nicht nur die Stadt, sondern auch meine Superkräfte, wie ich zu meinem größten Bedauern feststellen musste. Kaum gingen die Lichter aus, waren die Bildschirme dunkel und wurde der Kaffee kalt, zog auch schon die Sekretärin ihren Kopf aus dem Papierkorb, schwang sich der Hausmeister nicht mehr mit Tarzanschrei von Lampe zu Lampe und beendete Kollege Meier seinen obszönen Brief an das Finanzamt. Das alles setzte erst wieder ein, als der Strom und mit ihm seine Felder zurückkamen. Ich erkannte, das nicht ich die Menschen mürbe im Hirn machte, sondern der Elektrosmog. Mein Beitrag bestand lediglich darin, dem hoffnungslos verwirrten Denkapparat ein lohnenswertes Ziel zu geben. Eine rein selbstlose Aufgabe.

Welch Glück, dass unsere hochtechnisierte Gesellschaft sich so weit vom Elektromagnetismus abhängig gemacht hat, dass sie sorgfältig darauf achtet, keine saubere Minute zu haben. Dadurch habe ich reichlich Gelegenheit, das Potenzial meiner Fähigkeit weiter auszuloten. Gegenwärtig experimentiere ich mit der konservierten Kraft meiner Gedanken. Ich habe die Theorie, dass ich einen Befehlsempfänger nicht zu sehen brauche, nicht einmal in seiner Nähe sein muss und sogar zu einem anderen Zeitpunkt seine Order festlegen kann - und ihn dennoch zu jeder beliebigen Handlung zu zwingen vermag.

Sie glauben mir nicht? Sie halten dies alles für eine erfundene Geschichte? Womöglich erdacht, um Sie zu unterhalten? Wunderbar! Es funktioniert also. Dann bleiben Sie nun schön brav neben Ihrem Computer, an der Leselampe oder mit dem Handy in der Hosentasche sitzen! Greifen Sie sich einen Bleistift, und quadrieren Sie die Zahlen von 1 bis 100. Dann ziehen Sie von 100 zum Quadrat 99 zum Quadrat ab, addieren 98 zum Quadrat, subtrahieren 97 zum Quadrat und so fort, bis Sie 1 zum Quadrat abgezogen haben.

Das Ergebnis schicken Sie per E-Mail, SMS, Brief oder berittenem Boten an die Redaktion. Und in wenigen Tagen werde ich den Beweis für meine erweiterten Superkräfte in Händen halten. Und behaupten Sie nicht, Sie würden solche Sachen sowieso jeden Tag veranstalten!
Unglaublich, wie viele Jünger dem Meister gefolgt sind. Und das noch mit Lust! Zugegeben: Das Ergebnis ist nicht sonderlich schwer zu berechnen. Aber der Spaß am Umformen kommt dafür umso mehr zu seinem Recht.
Startpunkt ist also die Aufgabe, 1002 - 992 + 982 - 972 + ... + 22 - 12
Von da ausgehend gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, zum Ergebnis zu gelangen (und sei es der Taschenrechner - aber wir wollen uns doch nicht die Finger schmutzig machen). Die eleganteste beginnt damit, die erste Differenz zu berechnen:
1002 - 992 = 10 000 - 9801 = 199

Was fällt auf? 1002 - 992 liefert das gleiche Ergebnis wie 100 + 99. Sehen wir uns noch zwei Kandidaten an:
982 - 972 = 9604 - 9409 = 195 = 98 + 97
22 + 2 = 4 - 1 = 3 = 2 + 1

Die Differenz der Quadrate entspricht hier der Summe der unquadrierten Zahlen. Damit verbleibt die Aufgabe, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. An dieser Stelle ist es natürlich ganz unumgänglich, auf die Geschichte vom kleinen Schüler Carl-Friedrich zu verweisen:
Ein Lehrer hatte einmal in der Mathematikstunde keine Lust, seinen Unterricht zu halten. Da gab er den Schülern die Aufgabe, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren, um in Ruhe seine Zeitung lesen zu können. Zu seinem Unglück meldete sich nach kurzer Zeit der kleine Carl-Friedrich mit dem richtigen Ergebnis. Und er hatte nur zwei Zeilen dafür gebraucht. Er war auf die kluge Idee gekommen, immer die erste und die letzte Zahl dieser Folge zu addieren, also 100 + 1, 99 + 2, und so weiter. Das gibt 50 Summen, alle haben das Ergebnis 101. Und 50 * 101 = 5050.

Der kleine Carl-Friedrich wurde als großer Carl-Friedrich ein ziemlich großer Mathematiker: Carl-Friedrich Gauß. Das Ergebnis lautet also 5050. Befehl ausgeführt, Meister!

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