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Mathematische Knobelei: Abi mit zwölf

Es ist schon wieder passiert – wir haben beim internationalen Vergleich in LIMA (Letztlich Irrelevante MAthematik) grauenswerterweise einen der hinteren Plätze belegt. Großes Wehgeschrei in den Medien, heftiges Deklamieren bei den Experten und allerortens der Untergang des Abendlandes. Ach ja, und natürlich wohldurchdachte Sofortprogramme aus den Ministerien. Das Abitur mit zwölf Jahren soll es richten. Ohne Abstriche bei den Inhalten, versteht sich.
Wir kommen nun zum Studienobjekt Mora. Mora ist sechs Jahre alt, hat die postnatale Station mit der Note "Potenzial vorhanden" bewältigt, in der Krabblergruppe durchaus zufriedenstellende Ergebnisse in Deutsch, Englisch, Französisch, Nordfriesisch und Kisuaheli erzielt, leichte Defizite in Alter Geschichte, Neuer Philosophie, Überalteter Vergleichender Mengenlehre und Betriebsinnovationstechnik erkennen lassen, dafür jedoch hervorragende Resultate in fraktaler Geometrie, Komplexligandenchemie und submolekularer Quantengenetik gezeigt. Anfängliche Schwierigkeiten beim Übergang in den temporalüberdehnten Grundschulunterricht der Klassen eins bis drei ließen sich durch milde Dosen präsynaptisch agierender Neurotransmittermodulatoren in eine Positivsteigerung der Informationsprozessionseffizienz überführen. Derzeit prüfen wir, ob ausreichend Lehrpersonal zur Verfügung steht, um Moras Schlafkonsum auf zwei Stunden pro Woche zu senken, womit sich der Zeitverlust durch Nahrungsaufnahme und -ausscheidung kompensieren ließe.

Die Klage der Eltern auf ein monatliches Besuchsrecht mit fünfzehnminütiger lernfreier Sozialzeit ist bereits mit Hinweis auf den dadurch zu erwartenden Fortschrittsausfall abschlägig entschieden worden. Mora wäre damit bereit, nach erfolgreichem Absolvieren der Promotionsselektion in die Grundstufe des beschleunigten Gymnasialverfahrens einzutreten. Wenn Sie keine Fragen mehr haben, können wir nun mit den Tests beginnen. Professor Chastig, mögen Sie anfangen?



Sehr gerne. Mora, zuerst eine ganz leichte Frage zur Mathematik: Wir denken uns vierstellige Zahlen, die wir ABCD nennen wollen. Sie haben die Eigenschaft, dass die Summe von C und D addiert zur Zahl AB (nicht zum Produkt) gleich der Zahl CD ist. Wie viele solcher Zahlen gibt es?

(Schweigen)

Mora, hast du die Frage verstanden?

Ja, hab ich.

Und warum antwortest du nicht?

Ich will einen Teddy.

Mora, das ist wichtig. Du musst antworten, sonst ist deine ganze weitere berufliche Karriere gefährdet.

Ich will einen Teddy!

Mora, weißt du vielleicht nicht die Antwort?

Doch!

Dann sag sie mir einfach.

Nur für einen Teddy!

Mora, sei nicht kindisch. Weißt du, wie viele solcher Zahlen es gibt oder nicht?

Ich weiß das, aber du nicht.

Ich nicht? Aber das ist doch lächerlich. Natürlich weiß ich es.

Weißt du nicht!

Mora, selbstverständlich kenne ich die Antwort. Ich habe schließlich die Frage gestellt. Und die Antwort steht auf dem gleichen Zettel auf der Rückseite … (leise) Warum steht denn da nichts?

Du weißt die Antwort nicht, aber ich! Schenk mir einen Teddy, und ich verrate sie dir.

Mora, so geht das Spiel nicht.

Geht es doch! Antwort gegen Teddy.

Mora, bitte … (intensives Flüstern) Kennt jemand von Ihnen die Lösung? Bitte schnell vorsagen. Das ganze Projekt 'Abitur mit zwölf' steht sonst auf der Kippe.

Teddy! Teddy! Teddy!
Eines ist klar: 10 000 Zahlen zu notieren, um zu testen, für wie viele AB + C + D = CD gilt, würde zu lange dauern. Und viel Zeit bleibt nicht. Strengen wir uns also an, immerhin geht es um nichts Geringeres als die Zukunft der Menschheit!
Sehen wir uns die Sache mal etwas genauer an. Sind es wirklich 10 000 Zahlen? Natürlich nicht. 0001 ist zum Beispiel keine vierstellige Zahl. Ebenso wenig 0999. Die erste vierstellige Zahl ist die 1000, es verbleiben damit nur noch 9000 Stück. Jede von ihnen hat die Form ABCD. Wenn man das als Summe schreibt, wird es deutlich komfortabler zu handhaben:
ABCD = 1000⋅A + 100⋅B + 10⋅C + D

Wie schon angemerkt, gilt A ≠ 0, also gilt A ∈ {1, … , 9}. B, C und D sind dann sind dann ∈ {0, … , 9}. Damit können wir die Aufgabenstellung in einer vernünftigen Gleichung formulieren: 10 ⋅ A + B + C + D = 10⋅C + D.

Das lässt sich vereinfachen, indem wir auf beiden Seiten D subtrahieren, damit verbleibt: 10⋅A + B + C = 10⋅C
Formen wir noch ein bisschen um und bugsieren alle Cs auf die rechte Seite, dann bekommen wir 10⋅A + B = 9⋅C.
br> Wenn wir nun für A alle Varianten ausprobieren, zeigt sich, dass es für jedes A genau eine Lösung für B und C gibt. Eine Ausnahme bildet A = 9, denn dazu müsste C ≥ 10 sein und 10 ∉ {0, … , 9}. Es bleiben acht Kombinationen übrig: 182, 273, 364, 455, 546, 637, 728 und 819. Da hinter jeder dieser ABC-Zahlen noch ein beliebiges D stehen kann, müssen wir die acht Möglichkeiten noch mit 10 multiplizieren.

Damit haben wir eine Lösung: Es gibt 80 vierstellige Zahlen, die die gewünschte Eigenschaft erfüllen. Jetzt aber endlich einen Teddy!

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