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Mathematische Knobelei: Parlamentarische Hack- und Sitzordnung

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Wenn es denn sein muss ... Aber die Sitzordnung im Parlament bestimmen die Abgeordneten lieber selbst. Sonst muss am Ende noch der linksliberale X, der ständig vor sich hinkichert, neben der rechtsfortschrittlichen Y sitzen, die pausenlos Lohntüten strickt. Oder noch schlimmer: Eine Partei könnte einen kürzeren Weg zu den Pausenräumen haben, wo zwischen den Sitzungen die Schnittchen gereicht werden. Ein Drama! Besonders in dieser Legislaturperiode, in welcher alle vier Parteien exakt die gleiche Zahl von Sitzen haben.
Eingabe der Partei Ideologischer Selbstverwirklicher (PIS) zur Neugestaltung des Plenarsaals

Im Hinblick auf die demokratiefeindliche Mehrheitslosigkeit einer dem Ideal der global umfassenden Äquivalenzordnung, welche dem kürzlich mit überproportionaler Einstimmigkeit verabschiedeten Grundsatzprogramm der Partei Ideologischer Selbstverwirklicher zugrunde liegt, widersprechenden Unentschlossenheit des weltanschaulich unbedarften Wahlvolkes und daraus resultierenden konstruktivitätslosem Patt der aktionär reaktionären Sitzverteilung beantragt die Partei Ideologischer Selbstverwirklicher eine quadratische Grundstruktur der Anordnung der Anbringung der Sitzgelegenheiten im Plenarsaal. (Handschriftlicher Zusatz: Also ein quadratischer Raum.)


Eingabe der Fortschrittlichen Verweigerungspartei (FVP) zur Reform der Sitzordnungsverordnung

Wiederholt hat die Fortschrittliche Verweigerungspartei darauf hingewiesen, dass eine halbkreisförmige Bestuhlung der Fraktionsitzgruppen im Plenarsaal sowohl die kompetenzionellen als auch die hierarchischen Strukturen der internen Parteienlandschaften strukturell hervorheben und funktional straffen würde, was eine zu begrüßende Reflexion des suprimierten Majoritätsprinzips aus dem Parlament in die Bevölkerung mit sich bringen würde. Aus diesem Grund fordert die Fortschrittliche Verweigerungspartei, dass die Sitze in Halbkreisen anzuordnen sind, deren Mittelpunkte den Mittelpunkten der Raumwände entsprechen. Dabei ist auf eine maximale Größe der Halbkreise ohne Überlappung selbiger zu achten. (Handschriftliche Notiz: Der Radius dieser Sitzhalbkreise sei r genannt.)


Eingabe der Prinzipoppositionspartei (POP) zur Überarbeitung des Rednerpultpodiums

Wir sind dagegen! Zu erfüllen ist unsere Forderung, dass ein zentraler Platz das Rednerpult umgibt, der rund und kreisförmig ist und in der Mitte liegt. Er soll so groß sein, wie es überhaupt geht, ohne zu groß zu sein. Vor allem darf er sich mit keiner Sitzgruppe irgendeiner Partei oder Fraktion überschneiden. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass wir Dreiecke, Vierecke und Fünfecke nicht als Kreise anerkennen! Außerdem akzeptieren wir nur eine Mitte, die in der Mitte liegt, als Mitte! (Handschriftliche Anmerkung: Wir koalieren mit niemandem, und keiner darf sich auf unsere Plätze setzen!)


Eingabe der Partei Verwirrter Geometren (PVG) zum Sonderangebot im Teppichlager um die Ecke

Aus den Eingaben unserer drei Mitparteien ergibt sich eine Bestuhlung mit vier gleich großen Halbkreisen, deren Mittelpunkte auf den Seitenmittelpunkten eines Quadrates liegen und die ihre jeweiligen Nachbarhalbkreise berühren. Zwischen diesen großen Halbkreisen mit Radius r liegt ein kleiner Vollkreis mit Radius x, auf dem sich das Rednerpult befindet und der die vier Halbkreise berührt.
Die Partei Verwirrter Geometren beantragt, den inneren Kreis mit einer geschmackvollen Auslegware zu versehen, wie sie derzeit im Teppichlager Okzidentalorient zum Sonderpreis zu erwerben ist. Unser Parteivorsitzender, der zufällig einen Sitz im Aufsichtsrat von Okzidentalorient innehat, ist bereit, einen weit über das offizielle Angebot hinaus gehenden Preis für den Bodenbelag auszuhandeln. Leider trübt derzeit eine parlamentarische Verwirrung das Rechenvermögen unserer Parteifreunde, sodass wir uns nicht in der Lage sehen, die Fläche des Mittelkreises zu ermitteln. Wir beantragen daher, diesen Auftrag an die Leserschaft weiterzugeben. (Handschriftliche Notiz: Welche Fläche muss denn nun die Auslegware haben, wenn die großen Halbkreise einen Radius von r = 10m haben?)
Vermutlich wird die Debatte erst so richtig in Schwung kommen, wenn anhand ästhetischer Gesichtspunkte und des Quadratmeterpreises ein bestimmter Teppich ausgewählt werden soll. Wirkteppich, Knüpfteppich oder maschinengewebt? Und vor allem: welche Farbe?
Da ist es ja noch recht angenehm, sich mit der handfesten geometrischen Grundlage zu beschäftigen. Die Fläche des Teppichs errechnen wir schlussendlich über den Radius, geben wir ihm gleich einen Buchstaben und nennen ihn x.
Immerhin haben wir den Radius der großen Halbkreise: r = 10 Meter. Wir bilden nun ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Hypotenuse als Endpunkte die Mittelpunkte zweier benachbarter Seiten des großen Quadrates hat. Die anliegenden Katheten treffen sich im Mittelpunkt des Quadrats, der gleichzeitig Mittelpunkt des Teppichkreises ist. Von diesem Dreieck kennen wir nun einige Maße. Die Hypotenuse setzt sich zusammen aus den Radien der benachbarten großen Kreise, die sind beide r = 10 Meter, die Hypotenuse hat mithin eine Länge von r + r = 20 Meter. Die Katheten setzen sich jeweils aus dem gesuchten Radius x und dem bekannten r zusammen. Da bietet sich ein Blick auf Pythagoras an, der bei solchen Aufgaben ohnehin ganz oben im Werkzeugkasten liegt. Für unser Dreieck gilt:

(x + 10)² + (x + 10)² = 20²

Stellen wir ein wenig um, um eine Aussage für x zu erhalten:

2 · (x + 10)² = 400
(x + 10)² = 200
x + 10 = √200
x = (√200) – 10

Damit muss nur noch in die Formel zur Berechnung der Kreisfläche, A = · π, herangezogen werden, und es ergibt sich:

A = [(√200) – 10]² · π
A ≈ 53,87 m²

Dietmar Viertel hat dieses schöne Schaubild angefertigt. Die schwarze Linie im Mittelkreis ist unser x, die rote entspricht dem Radius r

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