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Mathematische Knobelei: Urnengang in Knobelingen

Es soll Zeiten gegeben haben, in denen saßen an den Grenzen Männlein in Uniform, die Reisenden per Hand hübsche Stempel in ihr nationales Sammelbüchlein drückten. An den Telefonen der Serviceabteilungen meldeten sich freundliche Frauenstimmen, die ganze Sätze sprechen und verstehen konnten. Und bei den Wahlen setzte man mit Kugelschreiber ein Kreuz auf den papiernen Bogen.
Ein Feld. Ein grauender Morgen. Tau in der Sonne. Bauer Wurzelhuber schlurfte über seinen Acker. Dieses Jahr gediehen die Integrale gut im Knobelinger Operatortal. Es würde eine reiche Ernte geben, stellte der Wurzelhuber zufrieden fest. Seine Finger glitten prüfend über die schlanken Biegungen der Früchte. Noch waren sie nicht ganz reif. Genügten allenfalls für Rechnungen mit engen oberen und unteren Grenzen. Nicht für die unbeschränkten Integrale, auf welche der Wurzelhuber sich spezialisiert hatte. Eine Woche noch, vielleicht zwei, dann wäre es soweit. Doch heute gab es hier nichts für ihn zu tun. Also konnte er ins Dorf gehen. In den Abgeleiteten Krug. Zum Divisorsepp und dem Summandenhein. Der war zwar ein Zugereister, aber von der Exponentialzucht verstand er etwas. Das musste ihm der Wurzelhuber lassen.

Ein Ort. Eine Wirtschaft. Wahlplakate in den Straßen. Das hatte der Wurzelhuber noch nie erlebt. Obwohl er schon lange in Knobelingen wohnte. So wie sein Vater und sein Großvater und dessen Vater und Großvater. Aber solch einen Auflauf hatte es im Abgeleiteten Krug seit Menschenrechnen nicht gegeben. Das ganze Dorf war hier versammelt. Nur mit Drücken und Schieben schaffte der Wurzelhuber es, sich an den Tresen zu drängen. Es waren tatsächlich alle da. 200 Knobelinger. Alle gestandene Manns- und Weibsbilder, denn die Jugend hatte keinen Sinn für die Operatorenwirtschaft und war davongezogen. So scharrte sich die konzentrierte Erfahrung der Alten um den Bürgermeister, der mitten im Schankraum stand. Und den seltsamen Kasten, der neben ihm auf einem Tisch vor sich hinsurrte.

Eine Wahl. Eine vergangene Tradition. Ankunft der Moderne. Es sei Wahltag, verkündete der Bürgermeister. Nicht bloß einfach oder doppelt, sondern gleich vierfach müssten die Knobelinger sich heute entscheiden. Als erstes für ihn, den Bürgermeister. Denn mit der ersten Stimme würde sein Amt neu vergeben, und da wolle man doch nichts falsch machen oder gar ein Experiment wagen. Ein Experiment? In Knobelingen? Der Bürgermeister beliebte zu scherzen, lächelte der Wurzelhuber. In Knobelingen hatte es seit Einführung der Null keine Experimente mehr gegeben. Man setzte auf Tradition. Als zweites für den Kreistag, fuhr der Bürgermeister fort. Ohne zu scherzen, denn der Kreis ist weit und interessiert sich nicht fürs Operatorengeschäft. Man erntet halt und lässt ernten und geht sich möglichst aus dem Wege. Als drittes für den Landtag. Und als viertes für den Bundestag. Wie gehabt, murmelte der Wurzelhuber. Doch der Bürgermeister wies auf den Kasten. Dieses Mal gäbe es keine Wahlzettel. Die Moderne sei da. Eine Wahlmaschine. Mit Chips, Fingerabdruckscanner und Multitouchdisplay. Dann mal los, munterte der Bürgermeister seine wackeren Knobelinger auf.

Ein Kasten. Vier Stimmen. Zu viele Knöpfe. Es mag an den großen Fingern liegen. Wer Integrale ziehen will, muss kräftig zupacken können. Daran hatten die Konstrukteure der Wahlmaschine anscheinend nicht gedacht. Da half auch nicht, dass der Bürgermeister mit gutem Beispiel voranging. Er drückte einmal, zweimal, dreimal, viermal … Nicht alle abgegebenen Stimmen seien gültig, verkündete die Maschine auf dem Display. Nun, aber so in etwa ginge es, überspielte der Bürgermeister das Malheur und schob den nächsten Wahlmündigen vor. Den Divisorsepp. Viermal gedrückt und einmal getadelt von der Maschine. Ebenso beim Summandenhein und auch beim Wurzelhuber und den übrigen Knobelingern. Nicht einer traf für alle vier Teilwahlen die richtigen Knöpfe. Immerhin, so stellte der Bürgermeister befriedigt fest, hätte es für sein Amt 180 gültige Stimmen gegeben, für den Kreistag noch ganze 160, beim Landtag 140, und der Bundestag müsse sich mit 120 zählenden Voten begnügen. Landtag und Bundestag haben bei mir geklappt, sagt der Divisorsepp kurz darauf stolz am Stammtisch. Bei mir nicht, gab der Summandenhein zu. Und der Wurzelhuber fragte sich insgeheim, wie vielen Knobelinger es wohl bei diesen beiden letzten Abstimmungen gelungen sei, ihre breiten Daumen richtig zu setzen. Ob man dass schon ausrechnen könne, bevor die Integrale reif sind?
Während die Integrale reifen, grummeln die Knobelinger doch ganz zufrieden bei aus Integralen Gebrautem und Gebranntem am Stammtisch. Da jeder Wähler einen Tadel abbekommen hatte, war es gemeinschaftlich ganz gut zu verschmerzen.
180 Wähler hatten ihre Stimme für den Bürgermeister abgegeben. Damit war der Bürgermeister - wie in Knobelingen üblich - einstimmig gewählt, auch wenn hier 20 Stimmen ungültig waren. Das sind 20 Knobelinger, die dann bei Landtag und Bundestag eine gültige Stimme abgeben konnten. Für den Kreistag gab es immerhin 160 gültige Stimmen (für den Schwager der Schwester des Bürgermeisters), 40 wurden hier getadelt, 40 hatten also für Land- und Bundestag eine Stimme abgegeben. 60 Stimmen also insgesamt, stellt der Wurzelhuber zufrieden ob seiner nach zwei Maß noch ungetrübten Rechenkünste fest. Und da jeder in Knobelingen weiß, dass man nach zwei Maß noch fahrtüchtig ist, setzte er sich auf seinen Traktor und stattete den prächtig gedeihenden Integralen einen Besuch ab.

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