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Gute Frage: Gibt es immer mehr aggressive Autofahrer?

Viele empfinden den Straßenverkehr heute als rauer und rücksichtsloser. Doch unsere Wahrnehmung ist trügerisch!
Ein Mann sitzt am Steuer eines Autos und zeigt eine frustrierte oder verärgerte Geste mit der rechten Hand erhoben. Er trägt ein weißes T-Shirt und hat dunkles Haar und einen Bart. Die Sonne scheint durch das Autofenster, und im Hintergrund sind verschwommene Bäume zu sehen.
Auf der Straße manifestieren sich Egotrips und Machtspiele, doch nicht jeder Raser ist ein Rowdy.

»Wut am Steuer – mehr Drängler und Raser!« Solche Schlagzeilen kursieren häufig in den Medien. Viele empfinden die Stimmung auf den Straßen als gereizt, vor allem im dichten Berufsverkehr. Der österreichische Verkehrspsychologe Dieter von Klebelsberg, der die Verkehrspsychologie als wissenschaftliche Disziplin entscheidend geprägt hat, beschrieb das Geschehen auf den Straßen als Mikrokosmos gängiger sozialer Dynamiken: Machtspiele, Statusgehabe und Konflikte würden hier im Kleinen sichtbar.

Das vorrangige Ziel vieler Autofahrerinnen und Autofahrer – möglichst schnell und reibungslos voranzukommen – erzeugt Spannungen. Denn unausweichlich kommen ihnen dabei rote Ampeln, Staus und langsamere Verkehrsteilnehmer in die Quere. Verkehrsbedingter Frust schlägt sich womöglich sogar abseits der Straßen nieder: In Los Angeles wollen Forschende einen Zusammenhang zwischen besonders schlimmen Staus und mehr häuslicher Gewalt gefunden haben.

Hinter einem rasanten Fahrstil steckt manchmal der Wunsch, das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren oder sich anderen gegenüber zu behaupten. Auch Gruppendynamiken beeinflussen das Fahrverhalten, besonders bei jungen Menschen, die gemeinsam im Auto unterwegs sind.

Umfragen zum Verkehrsklima bestätigen auf den ersten Blick den Eindruck, es würde ruppiger auf deutschen Straßen. Eine Befragung der Unfallforschung der Versicherer verzeichnete einen Anstieg aggressiver Verhaltensweisen: 2023 gaben zum Beispiel mehr Menschen als noch 2019 an, zu drängeln, bei Ärger schneller zu fahren – oder zu bremsen, um andere zu provozieren. Solche Erhebungen spiegeln allerdings nur subjektive Eindrücke – und die sind anfällig für Verzerrungen. Die Wahrnehmung unterscheidet sich schließlich von Mensch zu Mensch: Was die eine Person als Drängeln empfindet, registriert die andere kaum. Und auch wie jemand fremdes Verhalten interpretiert, hängt immer von Gemüt und Verfassung ab. Wer gerade vom Chef heruntergeputzt wurde, reagiert womöglich sensibler als jemand, der gerade in den Urlaub fährt.

Um die Frage nach der Zunahme von Aggression im Straßenverkehr befriedigend zu klären, bräuchte es daher objektive Daten, etwa in Form von systematischen Videoaufzeichnungen und Verhaltensbeobachtungen. Doch diese fehlen leider. Aggressivität im Straßenverkehr ist äußerst schwer zu messen. Genau genommen reicht es nicht, wenig umsichtiges Fahrverhalten zu registrieren – auch das dahinterstehende Motiv spielt schließlich eine Rolle. Wer dicht auffährt, will der vorausfahrenden Person womöglich gar nicht schaden, sondern ist vielleicht einfach unaufmerksam.

Viele wünschen sich aktuell mehr Rücksicht, doch das Bedürfnis ist ganz und gar nicht neu. Schon der älteste Gesetzestext der Menschheit forderte verantwortungsvolles Verhalten auf den Straßen. Der babylonische Codex Hammurabi aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. enthielt Regeln für den Umgang mit störrischen Eseln oder schlecht gesicherten Ochsenkarren. Kaum einer ist davor gefeit, sich hin und wieder auf der Straße provoziert zu fühlen. Doch verhielten sich wirklich neuerdings viel mehr Menschen aggressiv, müssten dann nicht die meisten ein beachtliches Punktekonto in Flensburg haben? Tatsächlich aber sind die dort registrierten Verstöße in vielen Bereichen seit Jahren rückläufig. Die Vorstellung, Unbeherrschtheit am Steuer sei ein Phänomen der jüngsten Zeit, ist daher wohl vor allem eines: ein Mythos.

  • Quellen

Baumann, E. et al.: Einfluss gleichaltriger Bezugspersonen (Peers) auf das Mobilitäts- und Fahrverhalten junger Fahrerinnen und Fahrer. Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), 2019

Klebelsberg, D.: Verkehrspsychologie. Springer 2012

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